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Zehn Jahre Mathe & Co. auf YouTube

2019-03-30 21:06

Oder: zehn Jahre Lehre in der Jauchegrube. Na ja, am Anfang war es nicht ganz so schlimm. Heute vor genau zehn Jahren, am 30. März 2009, habe ich das erste Video hochgeladen. Deshalb hier und heute also: Lektionen aus zehn Jahren auf YouTube.

Die – überraschend spärlichen – Kommentare zeigen mir, dass viele Menschen, die die Videos schauen, nur glauben, etwas verstanden zu haben. Natürlich gibt es Ausnahmen, etwa den emeritierten fachfremden Prof., der als Hobby die Allgemeine Relativitätstheorie verstehen will, den Elektrotechnik-Prof., der in seiner Vorlesung die Mathematik ordentlich machen will, den Rentner, der seiner Enkelin Mathe-Nachhilfe gibt, hin und wieder auch Personen, die wohl eher dem Schulalter zuzurechnen scheinen.

Im Laufe der Zeit habe ich aufgegeben, die Videos für das Publikum zu machen. Nein, ich mache sie für mich: Erstens will ich die Sachen selbst verstehen; ein Video zu machen, was mir gefällt, zwingt mich dazu. Wenn ich damit auch anderen helfen kann, umso besser. Allerdings muss man vorsichtig sein, ob es keine kontraproduktiven Effekte gibt. Zweitens fühle ich mich dank der Videos nicht mehr verpflichtet, in meinen Lehrveranstaltungen alles vorzubeten, sondern kann dort machen, was ich für sinnvoll halte. Dazu könnte ich zwar auch ein Skript bereitstellen oder auf ein Lehrbuch verweisen; aber unsereins fühlt sich verpflichtet, zumindest eine gewisse Art Vorlesung abzuliefern.

Technisch ist YouTube lange überflüssig. Meine Videos haben schon vor Jahren eine Heimat auf meiner eigenen Seite gefunden. Falls jemand seine Linksammlung darauf umstellen will: Die Links auf die Videos dort – wahlweise samt Query String zur Angabe der Startzeit – lassen sich aus den YouTube-Links gewinnen, indem man dessen vorderen Teil austauscht. Nicht nur durch die jüngste EU-Urheberrechtsreform ist diese eigene Site sehr wichtig geworden. (Anekdote: Meinen Antrag, als Rechteinhaber selbst das Content-ID-System nutzen zu dürfen, hat YouTube abgelehnt.) Vielmehr ist die eigene Site für mich dadurch essenziell geworden, dass YouTube die Sprechblasen-Anmerkungen abgestellt hat, mit denen ich früher Fehler korrigiert habe. Die Fehler stehen auf YouTube nun alle nackt; dagegen sind bei mir in die Videos Korrekturen eingebaut.

Videos sind genial für Inhalte, die von ihrer Natur her grafisch sind oder von einer zeitlichen Entwicklung profitieren (insbesondere Diagramme, Formeln und Schaltpläne vom Wichtigen zum Detail statt von links oben nach rechts unten). Obendrein gelangt die Stimme, die zum Bild spricht, parallel zu diesem Bild ins Bewusstsein, was viel effizienter und wohl auch effektiver ist, als wenn man mit den Augen zwischen einem statischen Bild und seiner Legende hin und her springen muss.

Aber insbesondere an meiner Veranstaltung „Mensch-Maschine-Interaktion“ habe ich gelernt, dass Videos nicht immer hilfreich sind. Sie geraten oft unterkomplex. Deshalb ist für viele Sachverhalte Text unverzichtbar – eigentlich schon in der Mathematik, wo der Text dann gerne aus Formeln besteht. Ein Beispiel: Die Konjunktionen „wenn“ und „umso“ kann man noch halbwegs im Bild darstellen, mit „aber“ und „obwohl“ fällt das dagegen schwer. Mein Nachdenken darüber, wie ich meinen Text zum p-Wert in ein Video verwandeln könnte, hat mir das jüngst noch einmal drastisch vor Augen geführt.

Noch gravierender finde ich aber, in Prüfungen und Abschlussarbeiten zu merken, dass die Sprachfertigkeiten oft weit hinter dem zurückbleiben, was man sich im akademischen Rahmen wünscht. Mit locker-flockigen Videos befördert man dieses Phänomen nur. Es wird zu wenig gelesen – erst recht in Fremdsprachen – und es wird zu wenig geschrieben. Andernorts gibt es inzwischen Kurse, um Lehrbücher lesen zu lernen. Das scheint mir keine dumme Idee.

Viele komplizierte und/oder komplexe Argumente lassen sich nur in Schriftsprache darstellen. Mangelnde Fertigkeiten in der Schriftsprache schränken damit auch intellektuell ein. (Es gibt das umgekehrte Phänomen, dass triviale Inhalte sprachlich aufgeblasen werden; aber das erlebe ich in meinen Fächern sehr selten. Das sprachliche Aufblasen setzt immerhin ein entsprechendes – wenn auch nicht zwangsläufig verstandenes – Vokabular und eine entsprechende Grammatik voraus, siehe 1, 2, 3.)

Also sollten Text und Video aus didaktischen Gründen zusammenspielen, weil sie verschiedene, einander ergänzende Stärken haben. Von der technischen Seite kommen zwei weitere Aspekte hinzu:

Erstens sind Videos sehr aufwändig, nicht nur in der Produktion, sondern auch – was man am Anfang gerne übersieht – in der Pflege, zum Beispiel der Korrektur von Fehlern, trotz meiner Produktionstools. Dieser Aufwand kommt Elite-Universitäten entgegen, die sich damit profilieren können, und ist ebenfalls hilfreich, um Projektvolumina zu vergrößern; schließlich wird man umso höher bewertet, je mehr Geld man ausgibt. Außerdem scheint das – auf diese Art verwöhnte? – Publikum auf YouTube das Hemdsärmelige nicht mehr so goutieren wie noch in der Anfangszeit, beim originalen pixeligen Gekritzel von Salman Khan. Die Produktionen werden bunter, lauter, gefühlt „professioneller“, aber inhaltlich ärmer.

Zweitens sind Videos nur mit größter Mühe barrierearm zu gestalten. Selbst, wenn man ein Text-Transkript anfertigt (automatisch mit Fehlern oder manuell für viel Zeit oder Geld), fehlen immer noch Beschreibungen von Diagrammen, Formeln und anderen Elementen, die im Video unbegleitet von Sprache gezeigt werden. Dies ist eine tickende Zeitbombe, die nur auf die erste Klage wartet.

Diese Gedanken zur Abwägung von Text und Video gegeneinander haben mich zum Schluss kommen lassen, dass mehr Text sein muss: für das Lernen und für die technische Machbarkeit. Ich habe jüngst an einigen Ideen gebastelt, das umzusetzen. Jene Lösung hätte vor zehn Jahren zusätzlich den Charme gehabt, extrem wenig Datenverkehr zu erzeugen. Dies ist heute natürlich kein Thema mehr, außer auf dem Lande.

Ein anderes didaktisch-technisches Experiment – begonnen vor fast sechs Jahren und inzwischen längst auf Github beerdigt – bestand darin, Quizze in Videos einzubetten, statt sie dahinterzuhängen und so einen Medienbruch zu verursachen. Natürlich gibt es Leute, die solche Quizze anklicken. Aber wer gehört dazu? Ich selbst definitiv nicht.

Zu guter Letzt noch ein paar Worte zu YouTube:

Die üblichen Zahlenangaben der Statistiken sind drastisch schöngefärbt. Das noch solideste Maß scheint die Wiedergabezeit zu sein, wobei man auch bei der nicht weiß, wie viel Aufmerksamkeit oder aber mediales Multitasking dahintersteckt. Die Zahlen der Abonnenten (Einmal angeklickt, längst vergessen?) und der Aufrufe (Kurz reingeschaut und dann weggeklickt?) müssen hochgradig nach unten nivelliert werden. Hinzu kommt, dass der YouTube-Vorschlagsalgorithmus zu einem Matthäus-Effekt führt: Oft gesehene Videos werden noch öfter angezeigt. Diese Selbstverstärkung bedeutet, dass der Zufall einen massiven Einfluss besitzt. Insofern dürfte es sich sehr lohnen, Werbung zu schalten und/oder zumindest am Anfang einige Views zu kaufen.

Was die Qualität der Inhalte angeht, stelle ich fest, dass ich in den Vorschlägen von YouTube selten etwas Interessantes finde; das war vor einigen Jahren noch anders. Wenn ich nicht eingeloggt bin, zeigt mir YouTube außerdem Vorschläge, die aus Bildungsperspektive erschreckend sind; die Plattform scheint vermüllter als der Pazifik. Extreme Beispiele: 1, 2.

Man könnte einwenden: Was kann das Telefon dafür, dass mit ihm der Enkeltrick verübt wird? Was kann die Paketstation dafür, dass in ihr Päckchen mit Methamphetamin liegen? Aber auf YouTube ist die Lage anders: Der Vorschlagsalgorithmus spült den Bodensatz nach oben. Das ist, als ob man ein gebrauchsfertiges HIV-infiziertes Spritzbesteck in den Sandkasten auf dem Spielplatz wirft. Die bloße Ablenkung durch Werbung und durch verlockende Videovorschläge scheint mir dagegen noch relativ harmlos.

Und zu guter Letzt fühlt sich nicht richtig an, gratis für einen Mega-Konzern zu arbeiten, der Steuern lieber (nicht) auf den Bermudas zahlt und massiv Lobby-Arbeit betreibt.

Kommentar vom 2019-03-30, 22:41

Danke für die ausführliche Reflexion.
Meine nächste Gedanken zu einem Punkt muss ich auf einen weiteren Kommentar verschieben, dann die Beschränkung auf 1000 Zeichen überfordern meine Kompressionsalgorithmen. Mein Punkt ist: Das ist ja eine steile These: "Viele komplizierte und/oder komplexe Argumente lassen sich nur in Schriftsprache darstellen." Mein Einwand beruht auf der Erkenntnis: Ein Bild/Video kann mehr als tausend Worte aussagen. Natürlich ist auch das Gegenteil eine allzu realer Aussage - wie viele Youtube Videos täglich beweisen.
MartinH

Kommentar vom 2019-03-30, 22:45

Wenn ich da das Wort "effizient" einfügen darf - also "lassen sich effizient nur" - würde ich die Aussage gleich unterstützen. Mit wenigen Worte (Buchstaben = Bytes) lässt sich ein komplexes Argument kodieren; was als Video- oder Audio- Kodierung ein Vielfaches an Speicherplatz benötigen würde. Schriftsprache ist per se sequentiell und damit der lineare Wahrnehmung als Sprache sehr ähnlich. Sollte gesprochene Sprache (Audiodaten) dann nicht ähnlich gut funktionieren; oder ist Schriftsprache da noch besser, weil ich mit meinen Augen einfach und schnell an eine Stelle zurückspringen kann, die ich gerade verstehen will. Video ist zwar auch sequentiell - aber durch die räumliche Gestaltung habe ich doch mehr Möglichkeiten komplexe Argumente (Vorgänge) örtlich parallel zu veranschaulichen. Beispiel: Wenn ich komplexe Strömungsvorgänge darstellen will, kann ich dies doch besser durch ein animiertes Video erreichen, als in Schriftsprache eine lange Beschreibung davon anzubieten.
MartinH

Kommentar vom 2019-03-30, 22:53

PS: Die obigen Gedanken konnte ich tatsächlich viel einfacher in Schriftsprache formulieren, als darüber ein kleines Video zu erstellen. Daher funktionieren Diskussionen zwischen vernünftigen Leuten in Internet-Foren in Schriftsprache in der Regel sehr gut. Wenn das Gleiche in Video- oder Audio-formaten passieren sollte, wäre es für die Beteiligten schon viel aufwendiger und Videos würde ein riesiges Ablenkungspotential bieten, weil neben den Kernaussagen viel anderer Ballast im Filmmaterial stecken würde.
MartinH

Kommentar vom 2019-03-31, 09:19

Ich feiere am 07.04. mein dreijähriges YouTube-Lehrvideo-Jubiläum (mit nur etwa 300 AbonnentInnen) und kann die meisten Gedanken, Vorteile, Nachteile, etc. sehr gut nachvollziehen. Als Nicht-Informatiker (und Einzelkämpfer ohne Wochenende, der neben der Lehre ja auch noch forschen möchte [oder andersherum, ;-)] und auch sonst wenig Zeit hat) ist es aber schwierig, eine eigene Alternative zu YouTube zu finden und zu etablieren. Eine ganz eigene Lösung macht (noch) zu viel Aufwand und zentrale Lösungen der Hochschule (z.B. Mediasite) sind von der Benutzbarkeit nicht gleichwertig zu YouTube einzuschätzen.
Mathias Magdowski

Kommentar vom 2019-03-31, 09:58

Danke für Deine super klare Sicht. Viele Punkte würde ich sofort unterschreiben. Ich teile die Sicht, dass sich YouTube vom Universalwerkzeug zur deutlich tumberen Filmdose entwickelt hat. Schade! Dass scheinbar absinkende Niveau kann ich schlecht beurteilen - zu kurz sind meine Erfahrungen. Aber das Thema höre ich an verschiedenen Stellen. Nicht nur als Klage, sondern zunehmend mit konkreten Ideen und Verbesserungsvirschlägen. Fühlt sich aber an wie Don Quichote gegen die Windmühlen... BG IngoD

Kommentar vom 2019-04-29, 17:51

Nur um auch meinen Senf dazu zu geben: Durch die Art und Weise wie man auf YT Geld mit seinen Videos verdient und die einarmigen Algorithmen die Produzenten anfüttern, werden Inhalte fein säuberlich kleingehackt, über mehrere Videos gestreckt, diese mit Füllmaterial verschnitten (stock footage) und unter reisserischen Titeln und auszüglichen Thumbnails in die Masse geworfen. Zum Zeitpunkt dieses Kommentares ist es so, dass man regelmäßig 10min Videos veröffentlichen muss, um etwas von YT zu haben. Der Freigiebige YouTuber (geschlechtslos), der keine Werbung auf seinem Kanal schaltet, bringt Niemandem etwas. Weder bekommt er etwas, noch wird er gefunden. Qualitativ hochwertige, sachlich, umfassend und didaktisch aufgebaute Inhalte, (lang und aufwändig zu produzieren,) sind somit komplette Zeitverschwendung.

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