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Gravierende Schwächen der aktuellen Studie zu YouTube

2019-06-09 16:01

Es geht in der jüngst in den klassischen Medien herumgereichten Studie allenfalls am Rande um Mathematik; es geht vielmehr um "Jugend/YouTube/Kulturelle Bildung". Die Stichprobe wurde nicht rein randomisiert gewonnen, sondern durch Quoten nach Alter, Geschlecht, Region, Ortsgröße und Bildung (S. 14). Mit "Bildung" scheint der Schultyp (S. 15) gemeint zu sein, wohl aber nicht, wie viele und welche Bücher die Eltern im Regal haben. Andere höchst interessante Merkmale wie "Need for Cognition" oder "Bereitschaft, sich interviewen zu lassen" waren offensichtlich nicht Teil dieses Geradeziehens. Über die Grundmenge, aus der ausgewählt wurde, erfährt man nichts. Ob zumindest innerhalb der Quoten zufällig ausgewählt wurde, erfährt man auch nicht: "Die Auswahl der Jugendlichen erfolgte nach den genannten Sollvorgaben über den IFAK-Interviewerstab." (S. 14)

Wie in den Sozialwissenschaften leider üblich, handelt es sich um eine reine Befragung. Wenn eine Schülerin sagt „Man kann sich das solange angucken, bis man es verstanden hat.“ (S. 29) kann das real so sein, kann bloß gefühlt so sein oder kann der empfundenen Interviewer-Erwartung nachgeplappert sein. Insofern muss man auch viele Fragezeichen hinter diese Aussage machen: "Sowohl Mädchen als auch Jungen berichten, dass sie von den Webvideos in hohem Maße zu kulturellen Aktivitäten angeregt werden." (S. 7) Was bedeutet "in hohem Maße zu kulturellen Aktivitäten angeregt" in der Wirklichkeit?

Kann man überhaupt "kulturelle Aktivitäten" abschließend mit der Liste von S. 21 definieren? Fällt zum Beispiel Schminken unter "Sonstiges"? Und was ist mit Fußball? Denn wenn Computerspiele auf Platz 1 der kulturellen Aktivitäten dabei sind, sollte doch auch Fußball eine kulturelle Aktivität sein? Ist mein Video über die Gödelschen Unvollständigkeitssätze nicht auch eine kulturelle Aktivität? (Und nebenbei: Was sollen auf S. 22 die erhofften Kurse für Computerspiele sein? Etwas wie "Überleben in Counter Strike: Global Offensive"?)

Die Aussage "86 Prozent der befragten 12- bis 19-Jährigen nutzen YouTube." (S. 7) relativiert sich auf S. 17: 21 % der Befragten haben angegeben, YouTube einmal die Woche oder seltener zu nutzen; nur 38 % haben angegeben, es täglich oder mehrmals täglich zu nutzen. Das erscheint mir eine absurd geringe Nutzung. Obendrein definiert die Studie den Begriff "Nutzung" nicht. Ist es zum Beispiel eine Nutzung, wenn man ein auf einer Webseite eingebettetes YouTube-Video für zehn Sekunden anlaufen lässt? Ebenfalls an mangelnder Begriffsdefinition krankt das "künstlerisch anspruchsvoll" in dieser Aussage: "Immerhin 4 Prozent wählen den Aspekt 'künstlerisch anspruchsvoll' unter die drei wichtigsten Aspekte." (S. 19) Ich kann mir vorstellen, dass Jugendliche unter "künstlerisch anspruchsvoll" etwas ganz anders verstehen als Bildungsforschende. Und das Wort "immerhin" würde ich in jenem Satz durch das Wort "bloß" ersetzen.

Bei der folgenden Aussage stellt sich die Frage, was "wichtig" heißt: "Bei der Auswahl von YouTube-Videos sind für 91 Prozent der Jugendlichen die Tipps von Freunden, Bekannten und Mitschülerinnen und -schülern wichtig bis sehr wichtig" (S. 10) Heißt "wichtig" hier, nicht jedes Mal den ersten Suchtreffer anzuklicken? Vergleiche: "Mehr als die Hälfte der Befragten steigen [sic] in der Regel mit einer gezielten Suche ein, da sie schon ein Thema im Kopf haben." (S. 19)

Die Studie blendet die Schattenseiten von YouTube praktisch vollständig aus. "Dass YouTube ein digitaler Kulturort ist, zeigt sich an der Bandbreite" (S. 7) -- und ein Hort der Unkultur. Es wäre spannend gewesen, im Vergleich etwas über die nichtkulturelle Nutzung von YouTube zu erfahren, zum Beispiel dazu, welche Jugendlichen wann und warum grenzdebile Kommentare schreiben.

"Die postdigitale Freizeit wird zur Arbeit an der Identität", steht im abschließenden Positions-Statement (S. 43). Das ist schön gesagt, kann aber zumindest auf YouTube nur für den kleinen Teil der Jugendlichen gelten, die aktiv mitmachen, laut dieser Studie 15 % (S. 27). Laut der hier zitierten (S. 40), sich selbst ebenfalls als repräsentativ bezeichnenden ZIM-Studie (dort S. 50) sollten das sogar klar weniger als 1 % sein. Auch diese eklatante Diskrepanz stellt die Stichprobe in Frage.

Kommentar vom 2019-06-09, 21:37

Die Studie ist echt grottig! Voller Plattitüden, die fast wehtun & allseits bekannter Schlussfolgerungen. Alleine diese Redundanzen wie "kulturelle Bildung" in der Einleitung, das Fehlen der Nutzergewohnheiten nach Bildungshintergrundes / Schicht ( für den Profi besonders ärgerlich) die Bezeichnung der Schul Fächer für die Schüler YouTube nutzen bei "Wichtigkeit von YouTube-Videos zu Schulthemen". Also eine Geld & Zeitverschwendung, genau das, was von einer quantitativen Studie mit Fragen nach 0815 Schema zu erwarten war. Diese simplifizierenden generalisierten Empfehlungen hätten die "Macher" sich auch sparen können.Es war wie zu erwarten, auch nicht rauszulesen, ob Jugendliche wissen, wie Ihre Daten kommerziell verwertet werden. Allerdings braucht man für diese Studien kaum mehr Sozialwissenschaftler, die SW Programme kann sich jeder VP aneignen & ein weiteres Programm kann die Befragung durchführen bzw. auswerten, also kein Grund zur Frustration über Sozialwissenschaftler :-)  

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