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Die Blog-Postings sind Kommentare im Sinne von § 6 Abs. 1 MStV. Der Verfasser ist Jörn Loviscach, falls jeweils nicht anders angegeben. Die Blog-Postings könnten Kraftausdrücke, potenziell verstörende Tatsachenbehauptungen und/oder Darstellungen von Stereotypen enthalten. Die Beiträge der vergangenen Wochen werden als Bestandteil der Internet-Geschichte in ihrer ursprünglichen Form gezeigt. Menschliche Autor*innen können unzutreffende Informationen über Personen, Orte oder Fakten liefern.

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Warum ein Pflichtfach Informatik Unsinn ist

2020-02-02 17:08

Wenn es doch nur so einfach wäre, wie man immer wieder lesen muss – nun sogar im Editorial der aktuellen c't. Nein, gegen den Buchbinder-Fail hätte kein Pflichtfach Informatik geholfen. Wer so etwas behauptet, sollte sich fragen, was denn Fächer wie Mathematik, Deutsch, Physik, Biologie und Geschichte helfen. Die Unterstützung für ein Pflichtfach Informatik dürfte sowieso stark bröckeln, sobald dessen übrige Befürworter*innen merken, dass die Uni-Vertreter*innen mit "Informatik" gerade nicht "Windows reparieren", "PowerPoint bedienen" oder "die App für das nächste Unicorn schreiben" meinen.

Wenn es um das Programmierenlernen geht, halte ich dagegen Bootcamp-Intensivkurse für erfolgversprechend – für die Leute, die sich das geben können und wollen. Und sogar mit viel weniger Stress kann man in einem einzigen Jahr von null auf ordentliche Programmierleistungen kommen; das sehe ich hin und wieder in meinen Lehrveranstaltungen.

Das eigentliche Problem scheint für mich darin zu liegen, dass saubere Programmierung die folgenden zwei wichtigen Zutaten hat: erstens Sorgfalt und zweitens Need for Cognition. Wer tut es sich an, immer (!) alle (!) Fälle (insbesondere Fehlerfälle!) zu behandeln? Wer sucht auch nach den Ursachen für Fehler, die nur einmal in der Woche auftreten? Wer liest die Specs der jeweiligen Programmiersprache oder zumindest eine buchförmige Zusammenfassung davon von A bis Z durch? Wer guckt sich jede Woche die Infos über neue Sicherheitslücken an? – Stattdessen erlebt man sein blaues Wunder, wenn man Leute, die C++ schreiben, fragt, was der Unterschied zwischen class und struct ist, oder Leute, die Webseiten bauen, was der Unterschied zwischen var und let ist, oder Leute, die mit Python arbeiten, was die Bedeutung der zwei Unterstriche am Anfang eines Namens ist.

Eine Zwangsbespaßung mit Informatik oder "Informatik" wird das nicht ändern. Stattdessen produziert man noch mehr Leute, die Python und JavaScript zusammengooglen, ohne zu wissen, warum ihr Gebastel funktioniert – und wann es nicht funktioniert. Zur Steigerung lässt sich noch ein bisschen ebenso zusammengegoogletes Deep Learning reinrühren. Gerade die in unserem Zeitalter der sogenannten Kompetenzorientierung so beliebten Projektarbeiten üben diese saumäßige Arbeitsweise ein, wenn sie nicht massivst betreut werden.

Ein kontraintuitiver Ansatz wäre, Programmiersprachen zu verwenden, von denen man nicht (fälschlicherweise) so schnell glauben kann, man habe sie verstanden.

Kommentar vom 2020-02-25, 20:32

Meine Antwort auf den Beitrag: https://it-teaching.de/posts/2020-02-25-pflichtfachinformatik/.

Kommentar vom 2020-02-25, 21:54

@Kommentator(in) von 20:32: Vorsicht: Ich habe einschränkend geschrieben "Wenn es um das Programmierenlernen geht", nicht "Informatik ist Programmieren". Dass auch ich weiß, dass Informatik deutlich mehr oder sogar anders ist als das, wollte ich mit dem Satz "dass die Uni-Vertreter*innen mit 'Informatik' gerade nicht 'Windows reparieren', 'PowerPoint bedienen' oder 'die App für das nächste Unicorn schreiben' meinen" klar gemacht haben. Aber die Unternehmen und damit die OECD wollen vordringlich Excel-Bediener*innen und Programmierer*innen, nicht gebildete Staatsbürger*innen. – Was Scratch usw. angeht, glaube ich, dass man sich damit wunderbar von Informatik ablenken kann. Die spannenderen Fragen vom Bias in Trainingsdatensätzen bis hin zum Überwachungsstaat und zur Monopolisierung liegen für mich ganz woanders. J.L.

Kommentar vom 2020-02-26, 12:17

In Bayern gibt es da Pflichtfach Informatik seit fünfzehn Jahren, mit dem aktuellen Lehrplan deutlich ausgeweitet. Ich glaube nicht, dass Bayern dadurch mehr Leute produziert, "die Python und JavaScript zusammengooglen, ohne zu wissen, warum ihr Gebastel funktioniert", aber wenn man wollte, könnte man das sicher am real existierenden Pflichtfach überprüfen.

Kommentar vom 2020-02-26, 13:57

@Kommentator(in) von 12:17: In Bayern wird das ja vielleicht noch ordentlich statt "kompetenzorientiert" unterrichtet. J.L.

Kommentar vom 2020-12-27, 22:55

Hallo, eine Sicherheit gegenüber einer vollständigen Fehlerfreiheit gibt es nicht. Selbst, wenn Sie den idealen Mitarbeiter mit Kognitionsbedürfnis und Sorgfalt finden. Er mag zwar weniger Fehler machen, Fehler macht er aber dennoch. Dann gibt es noch die Ausnahmetalente, die fast fehlerfrei arbeiten und das nötige Know-how mitbringen. Diese Menschen gehen auch die Extrameile. Doch bei diesen Experten handelt es sich um eine Minderheit. Die meisten Menschen sind mittelmäßig, faul, übersehen Fallstricke und potenzielle oder tatsächliche Gefahren. Die Frage, die man dem Unternehmen aus dem c't-Artikel eher stellen sollte ist doch: Warum ist der Fehler niemandem aufgefallen? Offensichtlich wurde dem Thema nicht die notwendige Bedeutung beigemessen. Irren wir uns nicht alle irgendwie voran? Der eine mehr, der andere weniger. Zu Ihrer Aussage, über das "Herumgooglen" und "... ohne zu wissen, warum ihr Gebastel funktioniert ..." folgende Frage: haben Sie das noch nie? Herzliche Grüße D. Hebler

Kommentar vom 2020-12-28, 00:29

@D. Hebler: Schönes Beispiel für ein Strawman-Argument. Ich weiß selbst, dass es keine vollständige Fehlerfreiheit gibt (auch wenn einige Vertreter*innen der Formalen Methoden hier aufschreien werden). Vielmehr geht es mir darum, dass an vielen Stellen nur noch unverstandene Bausteine ohne Sinn und Verstand zusammengeklebt werden. Bis zur vollständigen Fehlerfreiheit ist da doch noch etwas Luft, denke ich. – Die Leute, die fast fehlerfrei arbeiten, sind keine "Ausnahmetalente", sondern haben die (zum Beispiel aus protestantisch-konfuzianischer Sicht) "richtige" Einstellung. Man liefert halt einfach nichts Luschiges ab. – Und nein, für Software, die ich ernsthaft schreibe, ist Gebastel tabu. J.L.

Kommentar vom 2020-12-28, 19:52

Hallo Prof. Loviscach, Danke für den Hinweis auf das Strawman-Argument. Ich kannte den Begriff noch nicht – rückbetrachtet würde ich in meinem vorstehenden Kommentar einiges ändern. Ihre Meinung über die "richtige Einstellung" teile ich. Man sollte nichts "Luschiges" abliefern. Ich würde gerne zu Ihrem ursprünglichen Kommentar zurückkommen: Mich interessiert, was Sie davon halten, auch in Fächern wie Mathe, Deutsch usw. die Unterrichtsinhalte auf Basics (was immer das heißt) zu beschränken. Dann könnte man auch hier den Interessierten die Wahl lassen sich intensiver mit dem Fach auseinanderzusetzen. Hier fände ich spannend, ab wann man einen Schüler vor die Wahl stellen kann, sich für eine Fächerkombi zu entscheiden? Mein Interesse für Mathe beispielsweise kam sehr spät. Ich hatte bereits eine Ausbildung hinter mir, als ich begann Ihre Videos zu sehen und mich dann noch für ein Studium entschieden habe. Herzliche Grüße D. Hebler

Kommentar vom 2020-12-28, 21:26

@D. Hebler: Eine Beschränkung auf Basics würde ich gar nicht mal anstreben. Erst in Mathe 2 lernt man Mathe 1 ordentlich usw. (eine der vielen Unsinnigkeiten im Bologna-Modell, in dem man nach einem "Modul" alles darin perfekt beherrschen soll). Das Spiralcurriculum ist Trumpf! Aber in der Schule und ebenso an der Hochschule scheint das Curriculum nicht herum-, sondern wegzuspiralen, so dass die Basics nur einmal drankommen und nicht immer wieder durchgewälzt werden. – Was die Wahl von Fächern angeht, muss ich nachdenken. Ist man jemals reif dafür? Vielleicht sollten wir einfach umgekehrt die Fächer auflösen? J.L.

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