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Die Blog-Postings sind Kommentare im Sinne von § 6 Abs. 1 MStV. Der Verfasser ist Jörn Loviscach, falls jeweils nicht anders angegeben. Die Blog-Postings könnten Kraftausdrücke, potenziell verstörende Tatsachenbehauptungen und/oder Darstellungen von Stereotypen enthalten. Die Beiträge der vergangenen Wochen werden als Bestandteil der Internet-Geschichte in ihrer ursprünglichen Form gezeigt. Menschliche Autor*innen können unzutreffende Informationen über Personen, Orte oder Fakten liefern.

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Bruchrechnung in Zeiten von Corona

2020-03-28 19:11

Die Letalität (oder hässlicher: Todesrate) von Covid-19 wird grundsätzlich ohne Unsicherheit angegeben. Als Physiker bekommt man davon so einen Hals. Ein Wert ohne Fehlerschätzung ist kein Wert!

Und wie ich immer predige: Differentialgleichungen und Fourier-Transformation braucht praktisch niemand. Aber das Bruchrechnen muss klappen! Angewendet auf die Letalität := Todesfälle / Erkrankte sieht das so aus:

Im Übrigen gilt – was auch in der Didaktik immer ignoriert wird –, dass ein Mittelwert (hier die Letalität, dort die Effektstärke irgendwelcher Interventiönchen) herzlich wenig sagt. Es kommt auf die Umstände an!

[Nachtrag: Wie ebenfalls in der Didaktik üblich, habe ich gerade selbst den Fehler gemacht, die Kollateralschäden zu vergessen. Was ist mit Todesfällen – ob durch Covid-19 oder nicht –, die durch Überlastung von Krankenhäusern bedingt werden?]

[Nachtrag am 31.3.: Heute ist dies mit teils sehr ähnlichen Formulierungen auch in SPON angekommen.]

Kommentar vom 2020-03-28, 20:58

So ist es!

Kommentar vom 2020-03-29, 14:40

Einverstanden - geholfen haben mir aber auch Ihr (wenn auch vereinfachtes) SIR-Modell der Infektionsausbreitung in Form einer DGL sowie der Beitrag 'Mathematik in Zeiten von Corona' Ihres Kollegen Edmund Weitz aus Hamburg: also ein wenig mehr als Bruchrechnung. Als Laien sind wir dankbar für derartige Felsen in der Brandung widersprüchlicher Aussagen und Behauptungen.
D.H.

Kommentar vom 2020-03-29, 17:50

Bei SARS wurde lange Zeit von 6% ausgegangen, zum Schluss dann etwa 10%, per definitionem. Fehlerrechnung bringt es nicht weit, wenn man Schätzdaten aus einem exponentiell ansteigenden Datensatz in ein exponentielles Modell packt (was dennoch besser wäre als Nenner und Zähler unter die Lupe zu nehmen). Schade, dass nichtlineare Dynamik so fies ist.

Kommentar vom 2020-03-29, 21:12

Die Folgeschäden des infizierten und ausgebrannten medizinischen und Pflege-Personals muss man ebenso bedenken. [Oh ja, das sollte ich in meinem Nachtrag auch noch erwähnt haben. J.L.] Corona, die Krise des neoliberal zerstörten Klinikensystems, nicht der Sterblichkeit. Bruchrechnen kann man auch benutzen, um auszurechnen, wie viele Intensivbetten Italien mit 80 Mio. Einwohnern haben müsste, um auf deutschem "Standard" zu sein. Das sozialstaatliche Italien ist leider Geschichte. Kennen Sie dies? Freier Download: https://www.links-lesen.de/mike-davis-vogelgrippe

Kommentar vom 2020-03-29, 22:03

@Kommentator(in) von 17:50: Das Argument kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen. Wenn man keine Schätzung des Fehlers angibt, kann man auch gleich würfeln. Was nützt mir eine Angabe von, sagen wir, 1 %, wenn sie "wohl so zwischen 0,9 und 1,1 %" heißen kann, aber auch "wohl so zwischen 0 und 20 %" heißen kann? Und selbstverständlich kann man eine große Zahl (nichtlinearer) Modelle mit Eingangsdaten und Parametern quer durch die Bank laufen lassen und dann hübsch nach Bayes einen Korridor für die gesuchte Größe bestimmen (vgl. die Klimaforschung). Falls dieser Korridor sehr breit ist, ist das eben der ehrliche Stand unseres Unwissens. Aber bitte nicht nur eine einzelne Zahl aus der Lottotrommel. J.L.

Kommentar vom 2020-03-30, 11:59

D'accord. Es war übrigens von mir "Hochrechnen per Dreisatz" gemeint. Pardon. :-)

Kommentar vom 2020-03-31, 21:24

Was halten Sie von der Angabe der Letalität auf Basis historischer Vergleichsdaten? Somit wären auch sekundäre Todesfolgen durch Überlastung des Gesundheitssystems mit einbezogen.

Kommentar vom 2020-03-31, 22:17

@Kommentator(in) von 21:24: Sehr schwer. Man müsste ja irgendwie sicherstellen, dass die historischen Daten mit den aktuellen vergleichbar sind. Ähnliches Problem wie dies, nur viel komplexer. J.L.

Kommentar vom 2020-04-01, 13:22

Ich denke, wir haben aktuell ein typisches “cold start problem“, bei allen Modellen (medizinischen, ökonomischen etc.) – wie z. B. hier beschrieben: https://www.johndcook.com/blog/2020/03/04/automatic-data-reweighting
Es bleibt dabei spannend, wie das "data reweighting" durchgeführt wird, u. a. wissenschaftlich, politisch und vor allem gesellschaftlich.
Thomas Wittlinger

Kommentar vom 2020-04-04, 14:57

Spannend ist auch die Anzahl der durchgeführten Tests in die Statistik miteinzubeziehen. Aus dem Lagebericht des RKI, "Tabelle 4: Anzahl der Testungen in Deutschland (01.04.2020, 0:00 Uhr)", geht hervor, dass die Anzahl der Infizierten [genauer: der Anteil der positiv Getesteten an allen Getesteten der Woche, J.L.] um weniger als 2% [genauer: zwei Prozentpunkte, J.L.] pro Woche zunimmt.
https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-04-01-de.pdf?__blob=publicationFile

Kommentar vom 2020-04-04, 18:43

Vor zwei Stunden hat nun auch der Spiegel das Thema aufgegriffen:
https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/corona-wie-viele-tests-sind-negativ-a-130acc46-b203-4c2d-845e-0594d1dbf87a

Man titelt "93 Prozent der registrierten Tests waren negativ", woraus man schließen könnte, dass deutlich weniger als 7% der Bevölkerung infiziert ist, denn getestet werden ja insbesondere diejenigen mit Symptomen oder diejenigen, die engen Kontakt mit Infizierten hatten.

Kommentar vom 2020-04-04, 19:10

@Kommentator(in) von 18:43: Zumindest in dem Artikel bleibt allerdings immer noch unklar, was die (von Labor zu Labor verschiedene?) Rate an false negatives / false positives ist und nach welcher Frist eine Infektion überhaupt erst nachweisbar ist. Umgekehrt regt sich inzwischen der Verdacht, dass viele Menschen an Corona sterben, ohne jemals (intra vitam oder post mortem) getestet worden zu sein. J.L.

Kommentar vom 2020-04-05, 17:16

An der altmodischen Öffentlichkeitsarbeit des RKI zeigt sich, wie wichtig die Forderung von Statistikern ist, Daten & Modelle zu veröffentlichen: "Be prepared to show your working!" (D. Spiegelhalter), um externe Replikationen zu ermöglichen. Nur dadurch wird wichtiges Vertrauen zur "data science" aufgebaut.
Insbesondere dann, wenn mediale Lautsprecher die zugrundeliegenden Verfahren z.B. das "SIR-Modell" https://www.youtube.com/watch?v=YGeX2Q7D5BU [Ich sehe schon, ich war mit meinem Video mal wieder sieben Jahre zu früh. J.L.] mit seinen Variationen bzw. die Semantik der Datenpunkte nicht verstehen oder permanent verwechseln.
Wie gut, dass Mathematiker dann eingreifen. ;-)
Thomas Wittlinger

Kommentar vom 2020-04-05, 23:12

@Kommentator(in) von 17:16: Viel Glück damit, zum Beispiel ein Klimasimulationsprogramm von anderen Leuten zu verstehen! J.L.

Kommentar vom 2020-04-05, 23:36

»Bei uns gilt als Corona-Todesfall jemand, bei dem eine Coronavirus-Infektion nachgewiesen wurde«, so der RKI-Präsident:
https://videos.files.wordpress.com/xw9WT7Zh/rki-corona-200320.mp4

Kommentar vom 2020-04-07, 21:23

"In this extended interview, Dr. John Ioannidis of Stanford University cautions that we do not have reliable data to make long-term decisions about COVID-19, and that an extended lockdown might have far graver effects than the disease itself."
https://www.youtube.com/watch?v=d6MZy-2fcBw [Link korrigiert; das scheint mir nun die offizielle Version zu sein. J.L.]
"Ioannidis is a Professor of Medicine, of Health Research and Policy and of Biomedical Data Science, at Stanford University School of Medicine and a Professor of Statistics at Stanford University School of Humanities and Sciences." [Anmerkung von J.L.: Titel sind Schall und Rauch. Aber er sollte an dieser Stelle mindestens aus diesem Video von mir aus dem Jahr 2016 bekannt sein.]

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