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Lesen ist so was von 90er Jahre

2021-05-05 21:25

Die Boomer-Generation der PISA-Tester*innen will in ihrem neuen Opus einfach nicht akzeptieren, dass das mit dem Lesen längerer Texte nun einfach durch ist. Im Unterschied zu Hören und Sprechen ist das Lesen und Schreiben nicht biologisch primär (sonst müsste man es ja nicht unterrichten) und ist damit dem Untergang geweiht, sobald es eine überflüssige Technik geworden ist. Sobald – will sagen: heute. Wir haben YouTube und Zoom und TikTok und können damit endlich wieder zu den philosophischen Tugenden der alten Griechen zurück.

Natürlich wird es weiterhin Menschen geben, die längere Texte lesen oder gar schreiben, aber das wird dem Erlernen des Geigenspiels trotz Spotify ähneln: Man frönt seinem finanziellen, sozialen und kulturellen Kapital und stellt sein Durchhaltevermögen zur Schau – das seinerseits wieder Kapital voraussetzt. Dazu passt, dass sich die Freude am Lesen zu vererben scheint (S. 89).

Nicht nur das grundsätzliche Thema ist nicht zeitgemäß, auch das holzschnittartige "to distinguish facts from opinions" (S. 22) hört sich nicht zeitgemäß an, sondern – sorry to say – naiv.

Die gesamte Idee von "21st Century Competencies" und dem Einpauken von "Methoden" ist mir suspekt: Wenn die Menschen wüssten, statt nur Kompetenzen zu erwerben, wüssten sie, dass es oft unpraktisch ist, die Erde für eine Scheibe zu halten oder zu glauben, dass man nicht von Unsichtbarem krank werden kann usw.

Die Beispielaufgabe auf S. 42f ist absurd: Man bekommt eine Buchbesprechung und soll dann ein fünf Fragen zu dem eigentlichen Buch als "fact" oder aber "opinion" bewerten. Ohne dass man das eigentliche Buch in Händen hält, kann man doch nichts davon zu einem Faktum erklären?! (Und selbst dann nicht – außer es ist etwa gefragt, was die Jahreszahl der Copyright-Angabe ist.)

Die Zahlen zur Lesedauer (S. 79f) umfassen Bücher ebenso wie Blogs (Instagram?), stammen aus Selbsteinschätzungen (wie gut diese Selbsteinschätzungen sind, wurde augenscheinlich nicht untersucht) und basieren auf dem groben Raster 0, 30, 60, 120 Minuten am Tag.

Die Methoden zur Abwehr von Phishing (S. 107) funktionieren nur, solange sie nicht von einer hinreichend großen Menge an Empfänger*innen angewendet werden. Wenn man allen Menschen diese Methoden einimpft, werden die Bösewicht*innen halt anders vorgehen. Die grundsätzliche Lösung statt "Methoden" ist auch hier: Wissen und Intelligenz.

Dass nur "browsing the internet for schoolwork" einen – allerdings winzigen, nämlich 12 Punkte = 0,12 Standardabweichungen – positiven Zusammenhang mit der Lese-Performance haben soll (S. 132), ist nur schwer zu glauben; der Text dazu relativiert es auch. Auf jeden Fall nicht belegt ist die durch den Satz "how digital devices are used at school matter [sic]" (S. 132) übelst nahegelegte Kausalität.

"[T]he compound impact of disruptive forces on every aspect of our lives." (S. 138) Großes Drama, sehr wissenschaftlich!

"Students are increasingly reading fewer fiction books." (S. 142) Das kann doch von Vorteil sein, denn gerade fiktionale Literatur schiebt der*dem Leser*in klammheimlich Werturteile unter. (Haben Eure Eltern Euch auch "Fünf Freunde" gegeben, ohne sich dabei etwas zu denken?)

Zwei Sachen sind wie immer bei PISA: Erstens erfährt man nur selten etwas zur Streubreite statt zu den Mittelwerten. Zweitens sind die Tests nicht high-stakes, werden also vielleicht von vielen luschig absolviert; man sollte lieber so etwas machen: Ihr bekommt von uns, der OECD, echte 150 Euro, um euch ein neues Handy zu kaufen; zeigt uns, wie ihr das Beste findet. Skin in the game!

Kommentar vom 2021-05-07, 09:49

Ich bekomme ab und zu diese wohlige Gänsehaut und ein Erleichterungsgefühl, wenn ich etwas von Ihnen lese, Herr Loviscach. Dieses Gefühl das man hat, wenn man weiß, dass andere Leute auch wissen, in was für einer (Pardon) Scheiße wir sitzen und man (soziales Lebewesen halt) nicht alleine ist.

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