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Lernen für Überflieger*innen

2023-10-02 23:23

Dass das Paper Let's talk evidence – The case for combining inquiry-based and direct instruction zum Schluss kommt, dass man für das von den Powers that be der Bildungslandschaft angepriesene Inquiry-based Learning (forschend-entdeckendes Lernen, wenn man das so übersetzen will) erstmal die Grundlagen und dann eben noch das Inquiry-based Learning lernen muss, ist ja schon mal ein Fortschritt. Allerdings wird mir an diesem Paper klar, dass wir alle – mich eingeschlossen – seit Ewigkeiten in die falsche Richtung denken: Eine der großen Errungenschaften des Geistes nicht nur der Hominiden ist das Lernen von anderen Individuen. Wenn man dagegen alles selbst ausprobieren muss, verbrennt man sich nicht nur die Finger, sondern vergeudet gnadenlos viel Zeit. Ein fundamentales Ziel der Erziehung muss also sein, den naturgegebenen Vorteil des "Lernens durch Instruktion" zu perfektionieren (zum Beispiel sinnentnehmend zu lesen), nicht Inquiry-based Learning zu lernen. Letzteres ist ein Schritt zurück in der Evolution.

Das Paper zeigt tolle Vorstellungen davon, wie Lerner*innen so sind. Ich frage mich, ob die Autor*innen mal in den vergangenen Jahrzehnten eine stinknormale (Hoch-)Schule von innen gesehen haben: "This can also mean that students come up with their own questions that they would like to answer. Fifth, there is always some complexity in the reasoning involved. In inquiry, students must consider multiple sources of evidence and always think about alternative explanations for their findings. Sixth, full-fledged inquiry always involves a community. This means that students share their approaches and conclusions with other students and can face critical questions from each other." (S. 2) Diese Anforderungen bedeuten, dass Inquiry-based Learning übel diskriminierend ist. Immerhin beim Thema "Hausaufgaben" wird Entsprechendes schon breiter diskutiert.

Und wie sieht Inquiry-based Learning in der wahren Welt aus? "Hier habt hier ne Projektaufgabe, und nun googlet euch was zusammen!" Vielleicht stößt man beim Googlen auf Stack Exchange, muss das aber wegen Englisch weiträumig umfahren. (Nutzt irgendwer die Übersetzungsfunktionen der Browser?) Egal, es gibt doch genug YouTube-Videos mehr oder minder zweifelhafter Provenienz mit frontalen und überhaupt nicht forschenden Lösungsrezepten! (Nebenbei bin ich überhaupt gespannt, wie ChatGPT und Bing Chat bei Projektarbeiten Fuß fassen. Bisher sehe ich die KI erst bei Gliederungsentwürfen und Exposees.)

Aus Sicht der Autor*innen gilt dagegen: "[I]nquiry-based instruction designed for classroom use is typically well-structured, carefully designed and sequenced[.]" (S. 3) Wie bittschön kann das sein? Dann müssten die Ergebnisse der Inquiry ja schon vorher feststehen! Oh, wait … Inquiry-based Learning ist also nichts anderes als Osterhasen-Pädagogik. Ich erinnere mich an vier Semester Pflicht-Laborpraktikum in meinem Physikstudium. Die Hölle der Langeweile und der Sinnentleerung!

Sehr schön auch immer dies: "A next step is to use artificial intelligence (AI) techniques to refine the delivery of more adaptive and personalized guidance" (S. 9) – Und dann neben jede*n Lerner*in eine*n Polizist*in stellen, die*der aufpasst, dass auch brav mit der KI gearbeitet wird?

Überhaupt die aus der Zeit gefallene Defizit-Denke: "First, in many cases, guidance can be used to respond to specific moderators, for example, by providing more structure for students with low inhibitory control." (S. 8) Ich empfehle den Autor*innen eine Fortbildung zum Thema "Diversität".

Was die diversen angeführten Studien anbelangt (im Titel steht "evidence"!), hätte ich gerne nicht nur gewusst, welche Studien behaupten, randomisiert gewesen zu sein, sondern ich hätte auch gerne gewusst, bei welchen Studien die Studienautor*innen gleichzeitig Lehrer*innen waren, wie es um Publication Bias steht und wie viel bildungsbürger*innenlichen Hintergrund die Lerner*innen jeweils hatten. Nach der Art: Der eine Vater fragt den anderen Vater, ob jener schon das Science-Fair-Projekt für die Tochter an der High School fertig habe.

Kommentar vom 2023-10-09, 11:52

"Wenn man dagegen alles selbst ausprobieren muss, verbrennt man sich nicht nur die Finger, sondern vergeudet gnadenlos viel Zeit.". Wenn in diesem Fall aber schöne Muster mit den Exkrementen des eigenen Windelinhaltes im Kinderladen an die Wand drapiert werden oder ganze Hochhausblöcke brennen, weil man den Umgang mit dem Feuer erst selbst konstruieren muss, dann handelt es sich bei diesen Nachkömmlingen wahrscheinlich mal wieder um die "Hochbegabten" - wer sonst hat wohl solche Ideen oder wohl eher nur Impulse?

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