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Im Bann des Realitätsverzerrungsfelds

2023-06-13 21:58

LinkedIn spielt mir immer mehr Content aus der Denkblase der progressiven Gutgläubigen ein. Hier zwei Sachen, die gerade trenden:

Erstens verbreitet Zeit Online dies (weiter), augenscheinlich ungeprüft: Kaum vorstellbare Lernerfolge mit KI. Früher galt mal extraordinary claims require extraordinary evidence, was man von jenem Artikel wirklich nicht behaupten kann.

Zweitens berichtet der MDR über ein Höhenwindrad aus Sachsen: Doppelt so viel Strom aus Windkraft. Das dort verlinkte Video: "Ein 92-Jähriger Leipziger hat ein neues Windrad entwickelt, das leistungsfähiger und effizienter sein soll." Im Video erscheint ein handgeschnitzt wirkender Prototyp im Garten des Erfinders. Was man im ÖRR und anderswo gerne falsch versteht: Das Patentamt prüft vieles, aber anders als im Comic nicht, ob eine Erfindung funktioniert, oder gar, ob sie wirtschaftlich ist.

Aber wer jetzt an den per Funkwellen betriebenen Fernseher denkt, tut dem Pensionär Unrecht: Die Bundesagentur für Sprunginnovationen (müsste ich "Sprunginnovationen" überhaupt zu den Kampfbegriffen nehmen?) hat sich der Idee angenommen. Aber nur total anders: "Im Gegensatz zur ursprünglichen Idee", wie im MDR-Text versteckt ist.

Der Projektmanager bei der besagten Bundesagentur schreibt: "Die Genehmigung für mehrere Standorte, an denen die Forschungsanlagen errichtet werden sollen, ist sehr sicher." – Die ungenannten Standorte mögen zwar in Braunkohle-Brachen liegen, so scheint es laut der Unternehmens-Website. Aber ob so ein wahrlich formschöner Gitterturm wirklich BUND und Vernunftkraft ruhen lässt? Wie weit können die Rotorblätter fliegen? Und wisst Ihr, wo man die besagten Windgeschwindigkeiten schon ohne hohen Turm und vor allem mit noch weniger aufmüpfigen Nachbar*innen als in der Braunkohle-Brache hat? Yep, auf dem Meer. Die Chines*innen so: H260-18.0MW.

Wie an den beiden Beispielen oben zu sehen, agiert immer wieder der Qualitätsjournalismus als Katalysator. Soeben dies: «Jeder dritte junge Mann in Deutschland akzeptiert Gewalt gegen Frauen», berichten am Sonntag die deutschen Medien – doch an der Aussage sind Zweifel angebracht als lobenswerte Ausnahme in der NZZ. Wo bleiben die Berichtigungen der anderen?

Prigoschin muss gar nicht die Агентство интернет-исследований in Stellung bringen. Wir können auch ganz allein genügend Bullshit veranstalten, bis niemand, die*der bei Verstand ist, noch irgendwas glaubt. Auf die Gesinnung kommt es an. Das altmodische Konzept "Faktum" ist dann erfolgreich eliminiert.

[Nachtrag: "In einigen Fällen erzielte das Modell bei der richtigen Zuteilung in KI- und menschengenerierte Texte eine Genauigkeit von 99,5 Prozent." (Quelle) Da möchte ich ergänzen: Für die richtig zugeteilten Texte erreichte es sogar eine Genauigkeit von überragenden 100 Prozent!]

Kommentar vom 2023-06-14, 07:57

Nach einigen Tagen "jl-Abstinenz" beim Zeltlager mit 51 Vätern plus 73 Kindern kann ich zwar nicht beweisen, stelle dennoch mal die gewagte These hierher: (Mein) Bauchgefühl sowie gesunder Menschenverstand sind durch die Beiträge hier gut justierbar.
Bei den jungen Männern, die ich so treffe (nix repräsentativ, klar!) habe ich die begründbare Hoffnung: Keine 10 Prozentchen akzeptieren Gewalt gegen Frauen.
"Kaum vorstellbare Lernerfolge" bringe ich ausschließlich (!) mit "selten realisierbarer, allerdings nachweislich existenter, großer Motivation" in Verbindung.
"Bedingte Wahrscheinlichkeiten" im Zusammenhang mit repräsentativ (Bayes lässt grüßen) als "Gedankenfutter" erzeugen bei mir den Vorschlag: Bitte neben "Sprunginnovation" unbedingt auch "repräsentative Umfrage" sowie "Marktforschungsinstitut" auf die Vorschlagsliste mit Kampfbegriffen setzen.
Grüße vom flachen Land, MB

Kommentar vom 2023-06-14, 13:02

@MB: Die Bezeichnung "Prozentchen" finde ich gefährlich herunterspielend. Ich selbst wage lieber keine Schätzung der Prozentzahl, weil ich zu sehr in einer kulturellen Blase lebe. – Und, oh ja, "repräsentative Umfragen" sind geniale Mittel zur Diskurssteuerung. J. L.

Kommentar vom 2023-06-14, 14:02

Ja, dieses Click-Baiting treibt immer wildere Blüten. Was früher nur bei Bild und Express war, machen immer mehr Medienhäuser.
Wohin das führt, wenn jeder so seine eigene Realität hat, ist mir schleierhaft. Aber es fühlt sich nicht gut an.

Kommentar vom 2023-06-15, 11:20

Dankeschön erneut, jl, diesmal für den Hinweis zu Prozentchen: Beim Thema Gewalt werde ich versuchen, seltener als bisher "sprachlich herunterzuspielen". Das ist vermutlich ein weiterer Schritt auf meiner persönlichen Erkenntnisleiter.
Meine Intention (kein Rechtfertigungsversuch!) war: Bei den jungen Männern, die mir so begegnen, habe ich die Hoffnung und den Eindruck, dass maximal einer von zehn mit Gewalt gegen Frauen leben mag. Allerdings treffe (auch) ich wohl sehr selten Gruppen von Menschen, die ich für repräsentativ bzgl. irgendeines Merkmals halte.
Zweite (zufällige!) Neuigkeit in meinem Leben:
https://www.kitp.ucsb.edu/activities/brainlearn23
Vermutlich "sollte" ich darüber stolpern, kurz nachdem ich so ignorant von "Lernerfolg ausschließlich verbunden mit großer Motivation" gefaselt hatte!
Zitat: "Statistical learning in the brain spans an enormous range of complexity ..." - Da gibt es wohl viel zu denken.
Voller Demut verbleibt (keine Ironie!), MB

Kommentar vom 2023-06-15, 13:37

@MB: In dem Link gehts ja um das unbewusste Lernen, nicht um das Lernen in der Schule. Letzteres braucht in der Tat die große Motivation. J. L.

Kommentar vom 2023-06-16, 10:14

@J.L.: Ja, klar ;-)
Trotzdem wollte ich "bewusst" den Reflex nicht unterdrücken, mich an meine eigene Nase zu fassen, wenn ich hier schon auf fortgeschrittenem Niveau mitschreiben mag, wenn es um Worte, Kommunikation, Lernen, Leben geht. MB

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