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Salman Khan: Brave New Words

2024-06-29 12:00

Wieso die Khan Academy aber nun wirklich die Welt retten wird, mal wieder in Buchform, mit Blurbs auf der U4 von (ratet mal, von wem!) Bill Gates und Sam Altman.

tl;dr: eine Sammlung von Naivität.

Nachdem die Revolution mit Edisons Lehrfilmen, mit Khans YouTube-Videos, mit (auch meinen) MOOCs und mit den ganzen OER-Materialien doch nicht geklappt hat, werden wir aber nun dank der KI den Sieg erringen! Alle Studienanfänger*innen beherrschen endlich das Bruchrechnen und sogar die Unterrichtssprache. Ein Traum wird wahr!!1!

Khans Vision ist: Everyone is an explorer, researcher, engineer, artist, doctor, or counselor. (S. 219) Was für ein Stress. Wer soll dann Chips und Cola vor dem auf einem Drei-Meter-Fernseher laufenden Europacup konsumieren? Khan meint, seine Vision sei in Star Trek zu sehen. Hmmm. Last time I checked, wurden da aber nach Explosionen immer noch leblose Körper von namenlosen Statist*innen ins All geschleudert. Wie dumm muss man sein, um unnötigerweise einen solchen untergeordneten Job zu machen? Ich werde Kapitän der Enterprise oder gar nix!

Der Kardinalfehler der Edfluencer wie Khan ist deren Glaubenssatz, dass Menschen lernen wollen (und zuvor wollen können). Er kennt das von sich und seiner Familie wohl nicht anders. Aber so ist die Welt nicht in der Breite. Die Persönlichkeit und die persönlichen Begleitumstände sind extrem wichtig. Schau einer an: [T]he platform is powerful for students who proactively seek out the AI’s help. (S. 88) Auch kein Wunder, dass die Homeschool-Eltern darauf abfahren (S. 157), denn deren Erziehung produziert Kinder, die in die gewünschte Schablone passen. Man muss die Kinder halt früh konditionieren: Sie müssen tägliche Prüfungen (S. 181f) lieben sowie Selbstoptimierung und damit Selbstausbeutung als Ziel verinnerlichen. [E]verone needs to be this type of entrepreneur, even if they are working for someone else. (S. 206)

Khans KI ist trainiert auf die Rolle der*s sokratischen Tutor*in (S. 9): Immer nur Fragen stellen, keine Antworten geben. Aber wie nervig ist denn das?! Ich will das verflixte Ergebnis, und wenn Du es mir nicht gibst, frage ich eben Claude oder sonstwen! Khans KI soll einen verpfeifen (S. 35), wenn man ein Arbeitsergebnis hat, das nicht von ihr stammt. Eine fürs Leben wichtige Kompetenz wird hier geschult: Nimm Dich vor Petzen in Acht!

Auch auf die Chatkontrolle wird man schon vorbereitet: Khanmigo [so der Name von Khans KI] saves student conversations so that it can make them available for teachers and parents. (S. 129) Also wird man erst Claude fragen, um dann in Khans KI nicht so dumm auszusehen. It is akin to having a real, ethical, responsible tutor sitting next to your child when they do anything on the internet, reviewing sites in adance. (S. 137) Der neue Sport wird also sein, Halluzinationen und Jailbreaks zu finden. Ebenfalls ein unverzichtbarer Future Skill.

Dank KI kann man mit historischen und mit fiktiven Figuren reden (S. 37ff und 53ff) – naja, oder was die KI dazu so simuliert. OK, lassen wir uns doch mal von Dschingis Khan, von Pol Pot oder von Theodore Kaczynski die Welt erklären! Euch werden noch einige andere Persönlichkeiten einfallen.

Blooms Zwei-Sigma-Resultat zum (vermeintlich) enormen Effekt von persönlichem Tutoring muss natürlich wieder mal ohne Spur von Argwohn zitiert werden (S. 14). Ich gestehe, dass auch ich das in meinen Anfangsjahren blindgläubig zitiert habe. Heute weiß ich: Eine Effektstärke von 2 kann in einer vernünftigen Studie niemals passieren. Das Resultat ist höchst fragwürdig.

[T]here is no job that is safer in the large-language-model world than teaching. (S. 145) Aber warum soll nun nicht ein*e Lehrer*in dank KI eine Klasse von 100 statt 30 Schüler*innen betreuen?

Die Khan Academy sei kostenlos (S. 173). Hmmmm, wenn etwas kostenlos ist, bezahlt man indirekt, zum Beispiel mit politischem Einfluss von Salman Khan, Bill Gates oder Google. Oder indem man deren (heimliches?) Curriculum schluckt.

Der Titel des Buchs (ich habe erst World gelesen) und der Name Samantha (S. xi) für die Assistentin sind, wie man im Englischen so schön sagt, tone-deaf und hätten im Buch langer Erklärungen bedurft. Ebensowenig (S. xxv) geht die Declaration of Independence im Stil des rassistischen Dr. Seuss.

Der quadratische Ausdruck 3X² − 5X² + 2 (S. 18f) sieht eigenwillig aus. Noch besser ist aber seine lebensweltbezogene Einbettung: [Y]ou want to model the number of goals your team scores based on the number of hours they practice every week (S. 19). Das unterbietet noch das Niveau der sogenannten kompetenzorientierten Aufgaben im deutschen Mathe-Abitur. Obwohl das schwer möglich scheint.

Sowieso die quadratische Gleichung: Außer Mathe-Lehrer*innen braucht niemand die im Leben. Hat schon mal jemand untersucht, inwieweit die quadratische Gleichung Gewalt ist? Nicht nur, weil wir die Lösung kolonialistisch von Brahmagupta geklaut haben, sondern weil wir den Schulkindern damit Gewalt antun – wie mir im Fach Sport mit Hochsprung und Hürdenlauf.

Kommentar vom 2024-06-29, 19:47

Das mit den historischen Persönlichkeiten ist doch nett: Ich finde ja, meine Vorlesung über Physik krankt immer daran, dass ich zu lange Monologe halte, weil die Studis sich genieren und meine Frageversuche aussitzen. Könnte ich nicht einen JL-Avatar in die Vorlesung ein bzw. runterladen? Das würde bestimmt Schwung reinbringen.
Gruss (dg)

Kommentar vom 2024-06-30, 11:15

… Der Kardinalfehler der Edfluencer wie Khan ist deren Glaubenssatz, dass Menschen lernen wollen (und zuvor wollen können). …
So isses. Und alles andere auch.
Nicht neue, aber immer wieder (leider) aktuelle Analyse auch unseres Bildungssystems.

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