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Die Blog-Postings sind Kommentare im Sinne von § 6 Abs. 1 MStV. Der Verfasser ist Jörn Loviscach, falls jeweils nicht anders angegeben. Die Blog-Postings könnten Kraftausdrücke, potenziell verstörende Tatsachenbehauptungen und/oder Darstellungen von Stereotypen enthalten. Die Beiträge der vergangenen Wochen werden als Bestandteil der Internet-Geschichte in ihrer ursprünglichen Form gezeigt. Menschliche Autor*innen können unzutreffende Informationen über Personen, Orte oder Fakten liefern.
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2025-01-01 22:42
Die Infrastruktur, die unser modernes Leben trägt, ist gleichzeitig seine Achillesferse. Crowdstrike gebührt das Verdienst, diesen Umstand für breite Teile der Bevölkerung plastisch demonstriert zu haben. Aber auch andere, wohl politisch gelenkte Akteur*innen bemühen sich, uns das vor Augen zu führen: Nord Stream 2 ist Historie, nun kommen zerstörte Daten- und Strom-Seekabel in Mode. Dann und wann auch mal eine LNG-Pipeline. Und von Klima-bedingten Katastrophen oder der Vogelgrippe ist dabei noch gar nicht die Rede.
Wir haben uns davon verwöhnen lassen, dass Strom aus der Steckdose, Internet aus der Luft, meist Wasser aus dem Hahn, LNG aus Russland, Tomaten aus Festland-China und Chips aus Taiwan kommen. Man kann den Tannenbaum und die ausrangierte Waschmaschine neben den Altglascontainer schmeißen – und Heinzelpersönchen räumen die weg. Auf magische Art fließt Geld von der*dem Arbeitgeber*in oder vom Staat aufs Konto und dann weiter zum Supermarkt und zu den Stadtwerken. Und irgendwo minen Leute Bitcoins oder betreiben rätselhafte Maschinen, die für mich Bildchen generieren.
Hochgradige Arbeitsteilung verbunden mit Spezialist*innentum, landes- oder weltweit vereinheitliche Systeme, globalisierte Lieferketten sind hocheffizient – solange sie funktionieren. Gleichzeitig führen sie (und das sogar schon ohne KI!) zu Deskilling: Ich weiß nicht, wie man am besten Kartoffeln anbaut, und mir graut davor, irgendwann den Akku meines gebraucht gekauften Galaxy Note10 wechseln zu müssen. (Wobei ich mich sowieso darauf verlassen muss, dass irgendwer in Asien auf mir völlig unbekannte Art einen Austauschakku produziert, mit Lithium und Kupfer usw. aus Quellen, von denen ich lieber gar nichts wissen will.) Alles mit mehr als 50 Volt, mit Gas oder Trinkwasser darf ich schon gar nicht reparieren – und beherrsche das deshalb mangels Übung im Ernstfall nicht.
Die so bedingte Verletzbarkeit einer Gesellschaft lässt sich noch durch Desinteresse, Schlendrian und/oder Unfähigkeit potenzieren. Einfach mal ein paar Dutzend Gigawatt per Funk-Rundsteuerung an- oder abschalten? Und ich nehme an, dass nicht nur ein paar deutsche Hacker*innen, sondern auch viele Dienste
fremder Länder wissen, wie man an Patient*innendaten kommt oder welche Bordelle die Mitarbeiter*innen der deutschen Dienste
aufsuchen.
Aber zurück zum Ernstfall. Beim winterlichen Vier-Tage-Blackout 2005 im Münsterland ging es ja zivilisiert zu. Andererseits lehrt uns der New Yorker Blackout von 1977, dass unter der Decke der vermeintlichen Zivilisation ein Höllenfeuer brodelt.
Ich nehme an, dass Kulturen mit einer langen Erfahrung von Mangelwirtschaft in solchen Situationen besser aufgestellt sind. Sie verlassen sich nicht auf Institutionen, sondern auf Familien. (Und bekanntermaßen ist die Familie die Keimzelle des Faschismus.) Vielleicht nutzen sie robustere Technik, nicht den filigranen Kram, den man nur lizenziert hat, statt ihn zu besitzen. Das Stereotyp vom russischen Auto, das man mit einem Vorschlaghammer anlassen kann, scheint mir nicht völlig wirklichkeitsfremd.
Im Ernstfall könnte sich auch Intelligenz wieder lohnen – anders als außerhalb der Sphäre von OpenAI, SpaceX & Co. im Normalzustand der Gesellschaft, denn die den Status quo bewahren wollenden Strukturen vieler Organisationen und Institutionen vertragen sich nicht gut mit Intelligenz. Die Leitungsebenen verkünden Reformen, damit was getan wird, und die Untergebenen machen (wenn auch unter Verwendung anderer Begriffe: Stoff lehren
→ Kompetenzen vermitteln
und so) weiter wie bisher, weil denen klar ist, dass die Reformen nicht die wahren Probleme angehen, sondern nur nerven.
Was könnte man ändern? Jedes Semester und schon vorher jedes Schulhalbjahr eine Woche Technik-Abstinenz praktizieren? Der Name Technik-Ramadan
läge nahe, aber das wäre Cultural Appropriation. Oder nennen wir das neue Fach nach dem Vorbild der U.S. Marines: improvise, adapt, and overcome. Ein handlicher Name wäre auch Antifragility, aber das hört sich so psychologisch ungeschickt anti
an.
Dabei soll das Fach gar nicht anti
sein: Man lernt, ein altes Auto wieder fit zu machen, ein Handy mit einem selbstgebastelten Generator zu laden, ein paar Tage ohne Proviant im Wald zu verbringen. Etwas übertrieben dürfte sein, ein AK-12 zu zerlegen, zu reinigen und wieder zusammenzusetzen. Eine Blinddarmoperation bei Kerzenlicht und ohne Hilfe von YouTube und Wikipedia wäre definitiv jenseits aller pädagogischen Grenzen. Und eine wichtige Kompetenz, die in der Technik-freien Woche prinzipbedingt leider nur sehr eingeschränkt zu vermitteln ist, besteht in Agitation und Gegenagitation.
Kommentar vom 2025-01-19, 10:52
Chapeau,
als Hobby-Satiriker, ohne eine Show, ziehe ich meinen Hut und sage, "das hätte ich nicht besser sagen können".
evt. noch Dieter Nuhr oder so ......
Mit freundlichen Neujahrsgrüßen
und "Frieden statt Friedrich."
Wolfgang Wobido
IT-affiner Senior
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