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Zwei aktuelle Bücher zum Krieg

2025-03-29 22:17

Wenn Russland gewinnt von Masala und Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde von Nymoen sagen, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Richtungen kommend, im Prinzip das Gleiche. Was Drosten zu Covid-Zeiten im ÖRR und auf Twitter war, ist Bundeswehr-Uni-Prof. Masala derzeit in puncto 3. Weltkrieg im ÖRR und auf X. In seinem Buch gehts darum, dass Artikel 5 nicht hält, also die NATO-Staaten nicht beim Krieg mitmachen. Beim – zumindest vor diesem Buch – eher unbekannten Podcaster Nymoen gehts dagegen darum, dass die*der Einzelne nicht mitmacht.

Beides hat mich sofort an das Gefangenendilemma erinnert: Alle (Länder bzw. Personen) stehen vor der Frage, zu kooperieren oder nicht. Wenn man annimmt, dass die anderen nicht kooperieren, wird man das auch selbst nicht tun. Die KI hat mich hier noch auf das Assurance Game hingewiesen; wieder was gelernt – und dass natürlich schon andere solche Gedanken hatten. Verwandte Gedanken auch hier.

Masala rollt lang und breit ein Szenario aus und geht damit das Risiko ein, dass er von der Wirklichkeit (pun intended) rechts überholt wird. Und das wird er: vom Meltdown im Oval Office, von der Billion Schulden, von Grönland und Kanada, vom schneller als erwartet erfolgenden Zerfall der NATO. Aber, Hut ab, S. 31 (Pagina der PDF-Seiten) geht diesbezüglich schon recht weit. Vielleicht sollte man nie ein einziges Szenario präsentieren, sondern immer einen ganzen Strauß Szenarien, um klarzumachen, wie riesig die Unsicherheit ist. Die KI hilft ja gerne auch dabei.

Der 27. März 2028 scheint mir damit aus heutiger Sicht unrealistisch fern. Ich würde sowieso einen Karfreitag nehmen. Und einige Wendungen (ich will hier nicht spoilern) finde ich eigenwillig; aber die Geschichte schlägt immer wieder mal einen Salto.

Am Autor ist kein großer Romancier verlorengegangen. Das Expositorische auf S. 63 wirkt hölzern, ebenso wie die Firma Ruhreisen, die nur ein einziges Mal vorkommt (S. 59), zwecks gewaltvollem Ableben des Chefs.

Was mich wundert, ist, dass Drohnen nur ganz am Rande stehen. Sollte sich nicht zumindest da bis 2028 was getan haben? Und [d]ie Zukunft ist immer offen (S. 8) stimmt nicht so ganz: Wenn die Menschheit einmal weg ist, ist sie für immer weg. Mit dem Titel des Buchs habe ich das Problem, was es bedeuten soll, dass Russland gewinnt. Wer ist das Abstraktum Russland wirklich? Wer gewinnt, wenn Russland gewinnt?

Nicht nur hier zeigt das zweite Buch, um das es nun gehen soll, mehr Tiefenschärfe, auch wenn im folgenden Satz das Wort verlogen je nach Staat doch recht harsch klingen mag: Dass jeder Staat seine eigene Klassengesellschaft verwaltet, wird gern kaschiert in nationalistischen Formulierungen von «unserem Wohlstand», «unseren Steuergeldern» oder «unseren Grenzen». Das nationale «Wir», das heraufbeschworen wird, ist eine verlogene Fiktion[.] (/6/36!/4/2[k_d11elNr-1-2-2-3-5]/32, ja, Referenzen in EPUB-Dateien sind hässlich) Hierin liegt vielleicht die größte Unart journalistischen Schreibens: dass durch die gängigen Formulierungen permanent der Eindruck entsteht, im Krieg würden zwei Subjekte aufeinanderprallen, die sich durch absolute Geschlossenheit von Volk und Führung auszeichnen. (/6/38!/4/2[k_d12elNr-1-2-2-3-6]/28)

Zum Schönfärben gehört, dass die Politik Völkerrechtswidrigkeit lieber der Gegenseite vorwirft (prominentes Beispiel: Die USA genehmigen sich das Recht, Gefangene des internationalen Strafgerichtshofs zu befreien, /6/44!/4/2[k_d15elNr-1-2-2-3-9]/34) und dass man Waffen nach Saudi-Arabien (und auch in die Türkei, wie ich hinzufügen würde) liefert (/6/42!/4/2[k_d14elNr-1-2-2-3-8]/16).

Die folgende Kritik hätte ich in einem Buch eines studierten Soziologen nicht erwartet: Und die Grünen, die einst als radikale Friedenspartei angetreten waren, stehen den Konservativen als außenpolitische Falken oft in nichts nach. Zwar lautet die zeitgemäße Losung nicht mehr «Jeder Schuß, ein Ruß!», sondern «feministische Außenpolitik» – aber das Ergebnis ist dasselbe. (/6/18!/4/2[k_d2elNr-1-2-2-1]/70) Mich überrascht ebenfalls, aus jener Ecke zu lesen, dass Krieg doch nicht Ausdruck von kapitalistischem Imperialismus sei: Einige Kapitalfraktionen zehren in jedem Fall vom Krieg, während ein Großteil der Wirtschaft unter ihm ächzt. (/6/26!/4/2[k_d6elNr-1-2-2-2-21]/26, Kursivschreibung wie im Original) Ich hätte allerdings dazu die Frage, welche Teile der Wirtschaft denn jeweils das Sagen haben.

Die Erkenntnis, dass Staaten qua Geburt mit Krieg verbunden sind, verdeutlicht die Absurdität der Weltpolitik: Dass Staat und Gewalt dasselbe sind, gilt nicht nur nach innen, sondern auch nach außen: Erst durch seine Fähigkeit, Krieg zu führen, wird ein Staat zum Subjekt innerhalb der internationalen Staatenwelt. Anerkannt wird nur, wer seine Grenzen zu setzen und verteidigen weiß. (/6/30!/4/2[k_d8elNr-1-2-2-2-23]/4) Wahrscheinlich würde kaum ein Bürger, dem man die Frage stellte, wie die Welt im besten Fall organisiert sein sollte, antworten: «Es braucht an die zweihundert Staaten, die sich permanent mit Waffen drohen und sie in unregelmäßigen Abständen dann auch einsetzen!» (/6/30!/4/2[k_d8elNr-1-2-2-2-23]/30)

Mir fehlt allerdings der Gedanke, dass es nur wenige Menschen mit sehr großer Need for Power gibt, aber viele mit Need for Affiliation – eine Aufteilung, die vielleicht ein evolutionäres Erbe aus der Steinzeit ist. Fügen sich die Menschen also gemäß ihrem Naturell in diese irre Ordnung?

An der folgenden Stelle hätte ich mir eine Auseinandersetzung mit Butscha, mit Afghanistan und mit Zwangsrekrutierung gewünscht: Dennoch ist es für einen Großteil der Zivilbevölkerung nicht ausgemacht, dass eine Kapitulation mehr Gewalterfahrung bedeuten würde als die jahrelange militärische Widerwehr. (/6/24!/4/2[k_d5elNr-1-2-2-2-20]/16) Und das Stichwort Abschreckung scheint im Text nicht vorzukommen.

Eine dicke Lücke ist dem Autor selbst aufgefallen: Es handelt sich im Falle des Vernichtungskriegs daher um einen Krieg, auf den meine Analyse aus Kapitel I nicht zutrifft. (/6/40!/4/2[k_d13elNr-1-2-2-3-7]/18) Nun ergibt sich für mich allerdings das Problem, wer festlegt, wann ein Krieg in diese Kategorie fällt.

Wo Drohnen bei Masala praktisch gar nicht vorkommen, fehlen sie bei Nymoen ganz. Dabei liegt für mich die Frage auf der Hand: Wenn KI alle Jobs wegautomatisieren soll – wozu dann noch Hunderttausende Soldat*innen? Als Demonstration von Skin in the Game?

Beide Bücher finde ich für so dünne Heftchen recht teuer; das Thema gibts halt her. Und wenn man schon die Welt belehren will, warum macht man dann nicht Open Access draus?

Kommentar vom 2025-03-30, 17:08

Ja, das Thema hat in früheren Zeiten 100.000 Demonstranten im Bonner Hofgarten mobilisiert. Heute – nix! Schon sehr gruselig. Was ist denn mit „Omas gegen Krieg“?
Ich glaube, das ist ein Effekt der Demographie. Die vorwiegend alte Bevölkerung hat keinen Mut mehr, sich einzumischen und verharrt apathisch auf dem Sofa.
Froh bin ich, dass Herr Precht (Podcast Lanz und Precht) eine prominente Stimme gegen den aktuellen Aufrüstungs–Hype ist.

Kommentar vom 2025-03-30, 23:52

Vielleicht zum Thema need for power/affiliation:
How Violent was the Pre-Agricultural World?

Kommentar vom 2025-03-31, 11:25

@Kommentator*in von 23:52: Sehr schön, danke! Kann ich auch gut verwenden, um mein Argument, dass VUCA Buzzword-Unsinn ist, weiter zu stützen. J. L.

Kommentar vom 2025-03-31, 11:30

@Kommentar vom 2025-03-30, 17:08 "Omas gegen Krieg" [Anm. von J. L.: Hier ist die fiktive Gruppe aus dem ersten Kommentar gemeint, keine reale Gruppe zufällig gleichen Namens.] wäre möglicherweise genau eine dieser NGOs, welche aus dem abstrakten Wirkgefüge Russland (ein)gespeist sein könnte in die westlich-liberale Ordnung - ein weiteres Abstraktum.

Nicht Aufrüstung, aber Ausrüstung ist das Thema. Wenn Soldaten sich ihre Unterhosen aus eigenen Mitteln beschaffen müssen und solche unhaltbaren Zustände nun längst überfällig der Vergangenheit angehören sollen, dann: Ausrüstung! (Nicht Aufrüstung)

Natürlich kann man weiterhin in radikal-pazifistischen Sphären phantastischen Utopien huldigen oder einfach die Zeichen der Zeit erkennen: das Recht des Stärken gegen die Stärke des Rechtsstaates, welcher weder in Russland noch in China jemals Wirklichkeit war.

Gegen sämtliche planspielerischen Ideologien ist einzuwenden, dass stets Einzelsituationen in der Betrachtung stehen. Adäquat und zwingend ist aber nur Masala und die Frage: Was wäre, wenn Russland (das Unrecht) gewinnt? Dagegen ist alles aufzubieten.

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