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Die Zerstörung der Mathematik

2019-06-02 11:40

Bevor ich ein YouTube-Video zu diesem Thema raushaue, wollte ich meine Gedanken einmal hier im kleineren Kreise zur Diskussion stellen. Und zwar:

[Nachtrag, weil kaum jemand ein paar Absätze lesen kann oder will. tl;dr: Die Zwangsbeglückung von Schülerinnen und Schülern und Studentinnen und Studenten mit Mathematik leistet nicht das, was sie vorgeblich leisten soll, sondern ruiniert Mathematik für alle.]

Der Hauptgrund für das Übel mit der Mathematik scheint mir, dass die OECD und wir uns selbst weismachen, Mathematik sei zur Schaffung von „Humankapital“ für alle unverzichtbar. (An dieser Stelle will ich nicht die naheliegenden Fragen verfolgen, ob man alternativlos „Humankapital“ schaffen muss und ob jemand „Humankapital“ sein will. Der Begriff hört sich für mich fürchterlich nach „Kanonenfutter“ an.)

Tatsächlich wissen aber 99,9 % der Menschen aus ihrer alltäglichen Erfahrung, dass sie im wahren Leben nie wieder eine quadratische Gleichung gelöst haben oder den Mittelpunkt des Inkreises eines Dreiecks konstruiert haben – geschweige denn (was die Höhere Mathematik der Hochschulen angeht) eine lineare homogene Differentialgleichung zweiter Ordnung gelöst oder eine Fourier-Transformierte bestimmt haben.

Mathematik ist nur für sehr wenige Menschen praxisrelevant. Die armen Leute, deren Job darin besteht, sich jedes Jahr neue „praxisrelevante“ Mathematik-Abituraufgaben auszudenken, haben damit offensichtlich ihre größte Not. Anders sind die hirnrissigen Aufgaben mit Lebkuchenherztragenden auf dem Volksfest oder mit Gehaltskürzungen für Losverkäufer kaum zu erklären.

Es kann in der Mathematik auch nicht ernsthaft darum gehen, „denken zu lernen“. Das hat man früher mal vom Lateinunterricht behauptet. Es zeigt sich dagegen immer wieder, dass ein solcher ferner Transfer nicht funktioniert. An Mathematik lernt man Mathematik. Und falls „fachübergreifende Kompetenzen“ tatsächlich lehrbar sein sollten, wäre es wahrscheinlich sinnvoller, dies an etwas Brauchbarem zu tun, nicht an etwas Weltfremden.

Die einzige sinnvolle Erklärung, warum in dieser Breite Mathematik unterrichtet wird, scheint mir diese: Die Mathematik-Note weist recht sicher nach, dass ein Kind bzw. ein(e) Jugendliche(r) die Muße, die Ruhe, die (bezahlte?) Betreuung und ein gewisses Maß an Fleiß und Durchhaltevermögen besitzt, um sich auch außerhalb des Unterrichts in geordneter Form mit Weltfernem zu beschäftigen. Im Endeffekt handelt es sich um einen brutalen Test auf Zugehörigkeit zur aufstiegsorientierten Mittelschicht.

Um zu versuchen, die Mathematik zu retten, könnte man sie in der Schule zu Kunst und Musik ordnen. Dann würde niemand mehr meckern dürfen, wenn man dort abstrakte und philosophische statt (pseudo-)praxisrelevanter Dinge veranstaltet.

Abschließend scheint es mir angesichts einiger Diskussionen, die ich in jüngerer Zeit erlebt habe, nötig, klar zu machen, dass „Mathematik“ nicht immer „Mathematik“ ist. Man kann hier herrlich aneinander vorbeireden. Es gibt mindestens diese drei Arten an Mathematik:

1. Das Fachrechnen. Es müssen Zahlen in fertige Formeln eingesetzt werden. Das gilt insbesondere in der Technik bei der Anwendung von Normen und Richtlinien. Dort werden Formeln höchst selten begründet oder gar hergeleitet (sind also gar nicht zum Verstehen gedacht) und sogar die Einheiten sind schon umgerechnet, so dass man reine Zahlen einsetzen kann. Die Formeln dort zu verstehen ist sowieso kontraproduktiv: Wenn man sie nicht wortgetreu anwendet, bringt man sich in Begründungsnöte, warum man den Stand der Technik oder sogar Rechtsvorschriften (falls die Norm in denen referenziert ist) nicht berücksichtigt bzw. eingehalten hat.

2. Die Mathematik der Mathematik-Fakultät einer Universität (wohlgemerkt nicht in deren anderen Fakultäten oder an einer FH). Diese Art von Mathematik lässt sich auf die Formel bringen: Definition – Satz – Beweis. Das ist nicht verständlich oder gar intuitiv, sondern typischerweise Satz für Satz eine Knobelaufgabe. Ein Universitätsabschluss in Mathematik belegt, dass man diesen Stresstest überstanden hat.

3. Die Höhere Mathematik der MINT-Studienfächer. Man wendet Trigonometrie, komplexe Zahlen, seltenst auch Potenzreihen, Differentialgleichungen oder Funktionalanalysis mehr oder minder intuitiv als Werkzeuge an. Aber meist genügt der Dreisatz – siehe meine Videos zu Wind- und Wasserkraft sowie zu Gebäudeautomation.

[Nachtrag: 4. Bruchrechnung und Prozentrechnung. Also, was man braucht, wenn man Preise vergleichen will oder seine Stromrechnung verstehen will. Klar sollte das jeder können; im Text oben und im Abi und an der Hochschule geht es aber um andere Sachen.]

Kommentar vom 2019-06-02, 21:27

Könnte man dieses Argument nicht auch auf alle Fächer übertragen? Warum lernen wir in der Schule z.B. Gedichte zu analysieren? Reicht es nicht, lesen und schreiben zu lernen? Die meisten Menschen werden eh niemals beruflich oder hobbymäßig Gedichte lesen und schon gar nicht analysieren. Meine Antwort darauf wäre: Es geht nicht nur darum, die absoluten Grundlagen zu lernen. Sondern es geht auch darum, aufzuzeigen, dass lesen, schreiben und rechnen nur der Anfang sind, und es eigentlich noch viel zu lernen gibt. Und es geht natürlich auch darum, "Talente" zu fördern. Das geht nicht, wenn alles, was über die Grundlagen hinaus geht, optional ist. Oder doch?
Aus Sicht der Staat gibt es wohl einen ganz pragmatischen Grund: Als Industriestaat braucht man ja viele Fachkräfte, die sich höherer Mathematik bedienen (MINT). Dass dabei viele Schüler etwas lernen, was sie vermutlich niewieder brauchen, ist dann zumindest kein großer Nachteil.

Kommentar vom 2019-06-02, 23:25

Lieber Jörg, ich kann einige deiner Argumente nachvollziehen. Allerdings glaube ich, dass es an Praxis relevanten Mathematikaufgaben keinen Mangel gibt das durchaus auch für Schüler der Sekundarstufe ii interessant und relevanten ist. Ich würde mich gerne hier im Sinne der Sendung mit der Maus Mal dem Thema nähern. Wie funktioniert eigentlich künstliche Intelligenz ... Im Prinzip ist back propagation die konsequente Anwendung von 1ster Ableitung und der Kettenregel (ich hoffe dass, das die richtige Übersetzung ist). Wie funktioniert eigentlich die Grafik von Minecraft, Fortnite, und Co ... Trigonometrie und Komplexe Zahlentheorie haaben die Antwort.

Ich habe das Gefühl, dass die eigentlich Frage seien sollte warum unsere Mathelehrer sich aus dem untersten Drittel unserer Absolventen rekrutieren und nicht in der Lage sind Stoff wie der Youtuber threeblueonebrown zu vermitteln?

Kommentar vom 2019-06-02, 23:51

@Kommentator(in) von 21:27: Ja, natürlich kann man das Argument übertragen. Es hat seinen Grund, dass kein mir bekannter Schultest das Interpretieren von Gedichten überprüft.
Wenn wir Mathematik zu Musik und Kunst packen (siehe mein Posting oben!), können die Talente (also Kinder der aufstiegsorientierten Mittelschicht) das unter sich ausmachen.
Und nein, man braucht eben nicht viele Fachkräfte, die sich höherer Mathematik bedienen. Die kommt im Job einfach nicht vor. Ich warte nach 20 Jahren intensiver Firmenkontakte immer noch auf jemanden, der tatsächlich im Beruf mal eine Differentialgleichung gelöst hat. Ach, was sage ich, eine quadratische Gleichung gelöst hat.
"Dass dabei viele Schüler etwas lernen, was sie vermutlich nie wieder brauchen": Nein, sie lernen es nicht. Dann wärs ja gut. 99% der Schüler(innen) gehts mit Mathe so wie mir mit dem Hürdenlauf im Schulsport: Es ist die pure Qual und für den Rest des Lebens Abschreckung.
J.L.

Kommentar vom 2019-06-03, 00:13

@Kommentator(in) von 23:25: Wenn es keinen Mangel an relevanten Mathematikaufgaben gibt, warum produzieren dann fast alle Bundesländer seit Jahren diese unsinnigen Abituraufgaben? Ich nehme doch an, dass man dafür Expertinnen und Experten nutzt.
Zur Erklärung von Backpropagation siehe meine einschlägigen Videos: Ja, das ist die Kettenregel. Interessiert das jemanden? Nein. Meine Erlebnisse sind auch bei diesem Thema ernüchternd. Viele wollen was mit KI machen -- bis es dann minimal ernst wird. Was das Thema Computergrafik angeht, habe ich Entsprechendes lange Jahre auf meiner vorherigen Professur erlebt.
"Wie funktioniert eigentlich die Grafik von [...]": Das ist aus der Perspektive von jemandem gesprochen, die/der über hinreichend viel Need for Cognition verfügt, hinreichend viel Muße und Geduld besitzt und ein soziales Umfeld besitzt, das dies toleriert oder sogar fördert. Leider denken zu viele Pundits aus dieser atypischen Perspektive. (Gunter Dueck kommt mir da gerade in den Sinn.)
Und threeblueonebrown macht mit ablenkendem Schnickschnack und unnötigen Animationen inhaltsärmer und didaktisch schlechter das, was ich live und mit eingebautem Publikumsfeedback als Video aufnehme.
J.L.

Kommentar vom 2019-06-03, 16:10

Zur Video-Idee:
Fände ich sehr spannend die Reaktionen darauf zu verfolgen. Könnte mir allerdings auch vorstellen, dass es weitgehend untergehen würde. Ob so ein Video einschlägt oder nicht kann ja sehr von der gegenwärtigen gesellschaftlichen Stimmung abhängig sein und die Daseinsberechtigung der Schulmathematik scheint mir aktuell kein heißes Thema zu sein.

Zur Thematik:
Die Frage ist doch, ob der aktuelle Mathematikunterricht den gesellschaftlichen Status-Quo zementiert. Also dazu beiträgt, dass die Aufstiegschancen von bildungsferneren Schichten immer noch so schlecht sind. Die Argumente dafür finde ich schon nachvollziehbar. Die Alternative kann ja auch nicht sein nach den Grundrechenarten aufzuhören, sondern z.B. die Abwahl nach der 10.Klasse zu erlauben. Gleiches kann man natürlich für Deutsch überlegen, da sollte man in der Oberstufe ja mit Lesen und Schreiben auch langsam durch sein.

S.R.

Kommentar vom 2019-06-03, 16:19

Und zu J.L. vs. 3b1b:
Ich finde die Videos von 3b1b großartig. Halte das ganze aber eher für mathporn für Mathematiker. Hin und wieder verstehe ich hier auch einen Zusammenhang von dem ich mir gewünscht hätte, ihn schon im 3.Semester verstanden zu haben.
Die Lernvideos von Jörn scheinen mir eine andere Zielgruppe anzusprechen, aber vor allem ein anderes Ziel zu verfolgen.
Während ich in 3b1b Videos die Schönheit der Mathematik in teilweise sehr speziellen Themen entdecke kann ich mir in Jörns Videos das mathematische Handwerkszeugs eines Ingenieurs aneignen.

Aber ob insbesondere meine Gedanken zu den unterschiedlichen Zielgruppen stimmen ist natürlich nur gemutmaßt und könnte eine interessante Erhebung sein.
S.R.

Kommentar vom 2019-06-03, 17:36

Lieber Jörn,

ich kann wahrscheinlich heute noch mit ein wenig Muße die Null-, Extrem- und Wendepunkte einer X^5-Gleichung bestimmen. Schulmathematik war sehr einfach. An der Mathematischen Physik jedoch bin ich gescheitert, da ging es nicht mehr ums Durchschauen sondern nur noch ums Auswendiglernen und Anwenden von Kochrezepten, eine Art Unterwerfungsgeste für die Einweihung. Dem habe ich mich dann ab einem bestimmten Punkt verweigert, darin habe ich einfach keinen Sinn gesehen. Als Wissenschaftsjournalist Erfolg habe ich trotzdem, weil ich mit den Wissenschaftlern und Ingenieuren sprechen kann und verstehe, was die Probleme sind. Da fühlen sie sich im Interview gut aufgehoben.
http://klimafarm.com

JA! Mathe, Musik, Kunst und Literatur zusammenfassen zu den Dingen, die uns erfreuen (oder eben auch nicht), die aber für das tägliche Leben wenig Bedeutung haben. Und was die Gedichte angeht: Mein Sohn hatte gerade Deutsch LK Abiprüfung. Gedichtvergleich Goethe vs Expressionismus.

LIEBE

Kommentar vom 2019-06-03, 18:27

Hallo Frank,
das mit der mathematischen Physik macht mich stutzig. Reden wir vom selben Ding? https://de.wikipedia.org/wiki/Mathematische_Physik
Ich finde genau umgekehrt, dass man da nichts auswendig lernen muss. Die Relevanz davon ist außerhalb der Uni natürlich gleich nil.
Und zum Schul-Deutsch: Ja, noch gibt es da Gedichte. Aber mangels humankapitalisierbarer Kompetenz nicht im PISA-Test -- und damit sind sie in der Schule bedroht, denn im NPM wird nur noch gemacht, was zählt.
J.L.

Kommentar vom 2019-06-04, 14:35

Unterhaltungsmathematik scheint ein nicht unbedeutender Zweig der Mathematicas zu sein, wenn man sich die Vielzahl von vergnüglichen Produktionen/TED Shows und Video Produktionen, deren Ästhetik wie im Falle von Brown Blue schon Gegenstand medienwissenschaftlicher Forschung ist, anschaut. Auch gewissen Filmproduktionen und Montagetechniken scheinen ihre Inspiration bei Blaise Pascal und D´Alembert gefunden zu haben...Ein interessanter Forschungsbereich der sich da Medienwissenschaftlern auftut...Viele Filmproduktionen des abstrakten Films z.b. von H. Richter waren geometrischen Formen gewidmet, leider wird die Faszination von Kindern für Kinematographie selten an die von Mathematik gekoppelt ... ....Man kann in Mathematicas Filmen mittlerweile interessante Subkategorien ausmachen, musikalische Untermalung aber auch selbstproduzierte dramaturgische Einalgen sind hip. Wilde Schnitte und Comicstripästhetiken. Ich hoffe Jan Böhmerman wird sich irgendwann mal der Analysis annehmen
;-)

Kommentar vom 2019-06-04, 15:38

@Kommentatorin von 14:35: Aber Vorsicht, dass das nicht in die Idee ausartet, in Schule und Hochschule Videos produzieren zu lassen. Dann schneiden 25 % der Kids grüne Dreiecke aus, 25 % dameln mit der Videoschnitt-App rum, 25 % suchen nach Musik und 25 % hängen ab. Been there, done that.
J.L.

Kommentar vom 2019-06-04, 16:53

Noch eine Frage, wie kommen Sie auf die Quote von 99,9 % die laut ihrer Aussage nie wieder dazu kämen, ihr geometrische bzw analytisches Wissen( die Tatsache, dass ein deutsches Adjektiv zu "Analysis " nicht im üblichen akademischen Sprachgebrauch zu finden ist, stärkt indirekt Ihre These von der Weltfremdheit universitäre Mathematik) anzuwenden? Wie viel Prozent der deutschen Bevölkerung arbeitet igenhlich erwerbsmässig mit und zu und über Analysis? Geisteswissenschaftliche Fächer mit Schwerpunkt Abstraktion, ob die nun Logik, Semantik, Semiotik oder Linguistik oder auch mittelakkadisch :-) heissen, zu sehr der Nutzlosigkeit und mangelnden Verwertbarkeit anzuklagen, führt leider indirekt wieder zum Humankapital, dem eindimensionalen Menschen in der verwalteten Welt ( Marcuse, H. 1967) und der Frage wie man erworbenes Wissen inwertsetzen kann im herrschenden Akkumulationsregime ( Lipietz, et all ) Und das wollen Sie laut eigener Aussage ja nicht..:-)

Kommentar vom 2019-06-04, 18:04

@Kommentator(in) von 16:53: Die 99,9 % beziehen sich auf meine zwanzigjährige Ad-hoc-Stichprobe ;-) in zwei Bundesländern auf jeweils verschiedenen MINT-Fachgebieten; es geht um die Fälle von Bachelor- und Masterarbeiten in Unternehmen und die Ingenieur(inn)e(n) im Umfeld dort. Es gibt leider nur ganz wenige offizielle Studien zu diesem politisch heiklen bis unerwünschten Thema. Der elephant in the room wird vielmehr totgeschwiegen. Wer will sich schon mit dieser heißen Kartoffel die Karriere als Bildungswissenschaftler(in) runinieren?
Mittelakkadisch: Davon behauptet niemand, dass das eine unverzichtbare Kompetenz für den Job wäre, anders als bei Mathematik. Mich wurmt, dass Mathematik als alternativlos praxisrelevant verkauft wird. Natürlich ist Mathematik schön und spannend -- gesetzt das nötige Maß an Need for Cognition und ein Mathematik-tolerantes sozial-ökonomisches Umfeld. Aber die Heuchelei macht Mathematik für alle kaputt.
J.L.

Kommentar vom 2019-06-04, 18:16

Weiter @Kommentator(in) von 16:53: Ja, Mathematik rauszuschmeißen ist auch keine gute Idee. Es gilt zwar der große Relativismus, dass Fallrückzieher und Battle-Rap und Krümmungstensor alle zwar verschiedenartig, aber dennoch gleichwertig sind. Dennoch würde ich dafür plädieren, die Sachen, die schon länger Bestand haben, in der (Hoch-)Schule höher zu hängen, denn die haben nicht nur eine große Chance auf eine weitere lange Lebensdauer (siehe N.N. Taleb), sondern scheinen uns auch kulturell geprägt zu haben.
Aber es stellt sich die große Frage, wie das gelingen kann. Sicher nicht durch pseudokulturelle Zwangsernährung oder durch den Versuch von Gehirnwäsche. Und ganz sicher nicht durch irreführendes Marketing. Aber auch nicht durch bunte und laute Pseudo-Mathematik.
Seit Jahren ratlos,
J.L.

Kommentar vom 2019-06-04, 18:26

Antwort auf Jörn 18:27 Uhr
Genau das, was im Wiki beschrieben wird: Die rigorose Formulierung der Physik mit mathematischen Methoden. Ich erinnere mich noch mit Horror an die QM-Klausur im Hauptstudium: "Das ist zwar korrekt, aber zu anschaulich argumentiert, daher erhalten Sie nur die Hälfte der Punkte für diese Lösung." Bestanden habe ich die Klausur zwar trotzdem aber ich hatte keine Lust mehr. Gar nicht.

Kommentar vom 2019-06-04, 19:15

Hallo Frank (18:26),
ok, das ist dann verständlich, ist aber vielleicht mehr dem Prüfer als dem Fach geschuldet? Vielleicht muss man fragen: Wie hätte Feynman* das gemacht?
(Ich bin zu sehr Mathematiker, als dass ich das Wort "rigoros" hier unkommentiert lassen kann. Das ist natürlich nicht die Rigorosität der Definition-Satz-Beweis-Mathematik, schon allein, weil einem spätestens in der QFT rigorose mathematische Modelle fehlen. https://www.fuw.edu.pl/~kostecki/daniel_ranard_essay.pdf)
J.L.
*Wobei ich mich von seinem außerfachlichen Verhalten distanziere.

Kommentar vom 2019-06-07, 15:45

Gut, dass Sie sich nicht die Frage stellen, ob es überhaupt noch Sinn mache, Mathematik zu lehren...Wer bei Ihnen im Hörsaal eintrudelt, hat doch zumindest eine gewisse Affinität zur mathematischen Sprache. Die weitere .Sinnfindung kann man getrost Ministerien überlassen, auch Philosophen, Pädagogen wollen erkleckliche Jobs. :Der grossartige Isaac Basheev Singer , anwortete bei seiner Rede zum Nobelpreis auf die Frage, welchen Sinn es Mache, noch auf jiddish zu schreiben, nach Shoa und wo die Juden doch nun alle Iwrit oder english sprächen..“ wenn am tage der tage wo der messias kommt und alle verstorbenen Jiden aus den Gräbern steigen, wird die erste Frage sein..Gibts a noijes Buch .“ :-) Vielleicht wird es auch manch einem so mit Mathematikbüchern und Videos ergehen.Ansonsten gedenke man beim Ärgern über Oecdetc jener Worte des grossen Florentiners...

"...Vien dietro a me, e lascia dir le genti:
sta come torre ferma, che non crolla
già mai la cima per soffiar di venti..."

Kommentar vom 2019-06-07, 16:57

@Kommentator(in) von 15:45: Die Frage, ob Mathematik-Unterricht überhaupt noch Sinn ergebe, will ich schon stellen, zumindest in Bezug auf Unterricht mit geheuchelter Praxisrelevanz.

Was die vermeintliche Affinität aller MINT-Studierenden zur Mathematik angeht, rate ich zu Vorsicht mit unbegründeten Annahmen. Meine Erfahrungen sind da anders.

"Was stört es die deutsche Eiche, wenn sich die Wildsau an ihr reibt?" ist derzeit noch nicht mein Motto. Noch kämpfe ich gegen die Windmühlenflügel, statt unbeschwert meine staatliche Alimentation zu genießen.
J.L.

Kommentar vom 2019-06-10, 13:51

Wenn man mit einem Titel wie „ Zerstörung der…“…antritt und damit auf das Werk eines der Grossen der europäischer Geistesgeschichte Georgi Lukács „Die Zerstörung der Vernunft „rekurrriert, , sollte man dann nicht etwas ambitionierter sein und sich fragen, was kann die Mathematik zur Befreiung der Menschheit beitragen? :-) Also könnte man gar eine Mathematik für eine Emanzipierte, ja gar eine "befreite Gesellschaft" , wie sie aus der marxistischen Programmatik in die der Frankfurter Schule und kritische Theorie (u.a. Dialektik der Aufklärung, Horkheimer Adorno, übernommen wurde, fordern ;-)

Möglicherweise war die Offensive der Mengenlehre, in den hessischen Grundschulen unter dem sozialdemokratischen Bildungsminister Ludwig von Friedeburg eingeführt wurde, (die ich noch persönlich genossen habe), direkt auf Cantors Bestrebungen mit „Mathematik mehr Demokratie“ zu schaffen (Tietze, H. 1982 ), zurückgegangen. Weiss das wer in diesem trauten Kreise?

Kommentar vom 2019-06-10, 14:01

Ihre These dass „Mathematik nur Mathematik lehre, scheint sich vor allem darin zu bestätigen, dass sie grosses Potenzial, Denken zu lehren, nicht erfüllen konnte, denn dass hätte verlangt, in denjenigen Mathematik anwendenden Forschungsbereichen die Konsequenzen technologischen Fortschritts und die Endlichkeit materieller Ressourcen mit und vorauszudenken und so einzuhegen, dass die Reproduktion für die proteinbasierten Mathematikbetreibenden gesichert sein würde. Dass dies nicht geschah trotz immerwährender Mahnung von Physikern wie von Ditfurth, Lesch und Konsorten bleibt bittere Wahrheit und Zeichen tiefer Beschränktheit des Denkvermögens der menschlichen Spezies...
Die Schaffung neuer Produzenten von Mathematik in Form von Hitze resistenten Metall und Nano tech fundierten Intelligenzen, scheint allerdings den griechischen Mythos des Saturn der seine Kinder frisst, zu überwinden .

Kommentar vom 2019-06-10, 14:03


Zuletzt sei gesagt, dass wer auch immer die Metapher des "gegen Windmühlenkämpfens", des grossen Don Quijote zitiert, sich in Erinnerungen rufen möge, dass diese bezauberndste Figur der Literatur, der Ritter von trauriger Gestalt, eben nicht nur ein Held des Absurden, ein Vorläufer des Camus´schen Prometheus war, sondern nach heutige Stand der Medizin diese Figur der frühen Neuzeit aus La Mancha mit heftigen Wahnvorstellungen zu kämpfen hatte… ;-)

Kommentar vom 2019-06-10, 14:45

@Kommentator(in) von 13:51, 14:01, 14:03: Ich hatte eher auf ein aktuelles YouTube-Video rekurriert. -- Ich "durfte" in der Schule Mengenlehre machen; das hat mir fast das Genick gebrochen. Ich habe dann glücklicherweise in der Stadtbibliothek "Vom Einmaleins zum Integral" gefunden. Dieses Buch ist die Basis meiner mathematischen Laufbahn. -- Windmühlenflügel: Ja, genau das will ich sagen. Indem ich gegen Windmühlenflügel kämpfe, belege ich, an heftigen Wahnvorstellungen zu leiden.
J.L.

Kommentar vom 2019-06-10, 20:11

[Diesen Kommentar konnte ich leider wegen eines Links zu einem urheberrechtlich zweifelhaften Video und wegen der Ankündigung einer potenziellen Urheberrechtsverletzung nicht veröffentlichen. Ich bitte um Verständnis. J.L.]

Kommentar vom 2019-06-11, 19:19

[Wie gewünscht nicht veröffentlicht. J.L.]

Kommentar vom 2019-06-11, 21:27

@Kommentator(in) von 19:19: Natürlich kaufe ich nichts von Springer. Ich habe den besagten Blogpost nun um eine Erklärung ergänzt.

Kommentar vom 2019-12-14, 23:37

Ja, "Vom Einmaleins zum Integral" habe ich mit etwa 12 zufällig in die Finger bekommen und dann bis zum Abitur kein Mathebuch mehr gebraucht. Ich kann mich jedenfalls an keins erinnern, aus dem ich noch etwas aufregendes gelernt hätte.

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