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Die Blog-Postings sind Kommentare im Sinne von § 6 Abs. 1 MStV. Der Verfasser ist Jörn Loviscach, falls jeweils nicht anders angegeben. Die Blog-Postings könnten Kraftausdrücke, potenziell verstörende Tatsachenbehauptungen und/oder Darstellungen von Stereotypen enthalten. Die Beiträge der vergangenen Wochen werden als Bestandteil der Internet-Geschichte in ihrer ursprünglichen Form gezeigt. Menschliche Autor*innen können unzutreffende Informationen über Personen, Orte oder Fakten liefern.

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Auffälliger Antikonsum

2019-12-01 16:37

An lauen Sommerabenden mit dem SLK an den Szene-Straßenkneipen vorbeirollen, beim Meeting das 11 Pro Max und das Pro 16" rausholen – ne, ne, das kann man heute einfach nicht mehr bringen, ohne rot werden zu müssen. Als Statussymbol ist nicht mehr auffälliger Konsum gefragt, sondern auffälliger Antikonsum.

Und das führt auf die Frage, wie auffälliger Antikonsum denn gelingen soll. Dieses Problem stellt sich mir immer, wenn ich in Bus, Straßenbahn und der überfüllten 2. Klasse der DB sitze, äh, stehe oder mein steinaltes, gebraucht gekauftes Smartphone rauskrame: Wie kann ich die anderen Leute nicht allzu aufdringlich wissen lassen, dass ich das gar nicht nötig habe? ;-)

Solchen Fragen widmet sich das Paper Conspicuous anticonsumption: When green demarketing brands restore symbolic benefits to anticonsumers. Es präsentiert zwar zwei Umfragen in Mechanical Turk und mit p-Werten, schneidet aber die richtigen Fragen an und gibt gute Anregungen wie etwa die, aus Protest gegen Konsum seinen Laden am Black Friday geschlossen zu lassen.

"Ich könnte, wenn ich wollte." – Eine Diskussion des Fairphone fände ich in diesem Zusammenhang spannend. Und jüngst habe ich mal im Biomarkt den großen Einkaufswagen herumgeschoben, statt wie sonst zwei, drei der dort feilgebotenen Preziosen einfach in die Hand zu nehmen. Mit dem Wagen fühlt man sich wie Krösus! Ein weiteres verwandtes Phänomen: die PhD-Stelle in Stanford am dritten Tag hinzuschmeißen.

[Nachtrag: Eine lustige Parallele ist mir noch eingefallen: Proof of Work vs. Proof of Stake. Ersterer ist viel einfacher glaubwürdig zu machen.]

[Nachtrag 2: https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/dieter-schwarz-der-neue-reichste-deutsche-1.2057915]

Kommentar vom 2019-12-01, 17:50

Ich erledige meine Wege auch gern und oft mit einem alten, rostigen Stahlrad, dessen Rahmen wahrscheinlich älter ist als ich und dessen Anbauteile schon entsprechend oft repariert oder getauscht wurden, obwohl ich mir auch ein schickes Carbonrad leisten könnte. Ob das von meinen Mitmenschen als Antikonsum erkannt wird, frage ich mich auch oft. M.M.

Kommentar vom 2019-12-01, 17:54

@M.M.: Jemand müsste eine App dafür schreiben! Ich drucke gerade schon mal das Business Model Canvas aus. ;-) J.L.

Kommentar vom 2019-12-02, 00:09

Woran erkennt man, dass jemand ein Anticonsumer ist? - Er erzählt es dir.

Alternativ kann man aber auch auf non verbale Kommunikation setzen und entsprechende Sticker anbringen.
C.S

Kommentar vom 2019-12-02, 10:45

@C.S: Das Erzählen ist aber nicht vertrauenswürdig, wenn die Person nicht zugleich einen Grundbuchauszug vorlegt, im Original. Und eine gute Strategie ist, mit mehreren Non-Consumern als Gruppe aufzutreten, um sich das einander zu erzählen und die anderen Leute nur "zufällig" mithören zu lassen. In der Straßenbahn stehend, erlebe ich öfters Clubs älterer Damen, die einander berichten, an welchen exotischen Orten ihre vielen Enkelinnen studieren und wie oft sie die besuchen. – Sticker haben wieder das Glaubwürdigkeitsproblem, weil sich jeder die anbeppen kann. J.L.

Kommentar vom 2019-12-02, 16:21

Zumindest für Anti-Neuware-Consumer gibt es die Möglichkeit, alte, viel getragene Klamotten einfach mit sehr viel Bedacht und Stil auszuwählen, sodass alles schreit "das ist mit Absicht so". Wer sich auf diese Weise so gut kleiden kann, dass er mit seinem guten Geschmack auffallen kann, zeigt auch: Ich habe wirklich viel Zeit um mich damit zu beschäftigen, habe also entsprechend wenig andere Sorgen (parallele zu aufwendigen Balzritualen, wie z.B. beim Seidenlaubenvogel - Wikipedia, findet ihr selbst).
Damit zeigt man aber eben nicht ausdrücklich "ich habe viel Geld", sondern "ich habe ein angenehmes Leben". Sollte aber doch auch reichen.

Strahlt man das erstmal auf einer Ebene aus, schwappt der Eindruck gerne z.B. vom Schuh aufs Smartphone über. Dann sieht schnell alles, wie "mit Absicht so" aus.
Problematisch ist natürlich, dass man Stil nicht kaufen kann.

Kommentar vom 2019-12-02, 19:18

@Kommentator(in) von 16:21: Oh ja, "Ich habe ein angenehmes Leben" darzustellen, ist ein viel besseres Statussymbol als "Ich könnte mir auch mehr leisten"! – Wichtig ist auch der Punkt, dass man sichtbar viel Zeit in den Stil investieren muss; Zeit ist eines der teuersten Güter. – Und Stil kann man zwar nicht kaufen, aber es gibt viele, die einem den _ver_kaufen wollen, ob "Influencer" oder Schuhhersteller. J.L.

Kommentar vom 2019-12-03, 21:17

Aus einer der Hochburgen des Kapitals kann ich berichten, dass guter Stil sehr wohl käuflich ist! Es gibt Stil Berater, die muss man sich wirklich leisten können. Die massgeschneiderte Garderobe verlangt viele Anproben / hand gearbeiteten Schuhe aus der Toscana ebenso. Und antikonumeristisch ist das sogar auch, es bedarf weniger handgearbeiterter Teile statt überquellender Kleiderschränke! Seit Gucci, Hermés Armani & Co zum Standard der gehobenen Mittelklasse geworden sind, lässt sich Disktinktion nur durch sehr zeitaufwendige Procedere erlangen, ein input erwähnte bereits Vintage Garderobe. Aber es lohnt sich: die eigenen Vorträge Diskussionsbeiträge erlangen mehr Anerkennung, wenn man in edlem Leinen, knisternder Seide & vom PrivatParfumeur gemixten Duftwassser parliert. 2.te Klasse Reisen wirkt bei gutsituierten Beamten eher geizig, als antikonsum, denn man nimmt Ärmeren Platz weg, ähnlich wie Oberstudienräte die in ihren öffentllich geförderten Studie Wohnungen bleiben.

Kommentar vom 2019-12-04, 00:54

"Wie Krösus mit dem Einkaufswagen", das kenne ich voll gut. Wie kool dass Sie das hier so offen erzählen :-) Das Lebensgefühl der Bescheidenheit/ des Sparens und bloss nichts Ausgebens kenne ich von meinen Grosseltern, die aus Galizien /Ukraine geflüchtet waren. DP Camps und andere Lager prägen für ein Leben; auch wenn man es sich irgendwann leisten kann. Das 1. mal im 4 Sterne Hotel war eine Befreiung, Das Aufgeben ständiger Selbst Genügsamkeit. Sie konsumieren sicher super bewusst und analytisch und fairphoe Smartphones, Bioleinen und Ökoschurwolle Produzenten sind auf Leute wie Sie angewiesen, die auch mal Kohle locker machen können für gute nachhaltige Produkte & sich daran erfreuen! Apropo nachhaltige Freude..Wie wird eingentlich dei Wärme des Quell Wassers in Thermalbädern "recycelt", weitergenutzt? Ausserdem wird das eh nichts mehr mit Klimawandel verhindern durch Individualkonsum, ob der steigenden Anzahl der SUV Zulassungen, Fleischkonsum etc. o die conditio human per se.

Kommentar vom 2019-12-04, 10:25

@Kommentator(in) von 21:17: Erst habe ich mich bei dem "eher geizig" ertappt gefühlt. Aber dann ist mir dies klar geworden: Ein Sitzplatz in der 1. Klasse nimmt viel mehr Platz (in m² gerechnet) weg als einer in der 2. Klasse. Als nehmen die Leute in der 1. Klasse denen in der 2. Klasse den Platz weg! Der wesentliche Bösewicht ist die Bahn, die zu viele der platzraubenden 1.-Klasse-Plätze vorsieht. Wenn ich 1. Klasse fahren würde, würde ich sogar noch befördern, dass die Bahn einen weiteren 2.-Klasse-Waggon gegen einen 1.-Klasse-Waggon austauscht. J.L.

Kommentar vom 2019-12-04, 10:38

@Kommentator(in) von 00:54: Für die Thermalbad-Abwärme gibt es hier und da eine Wärmerückgewinnung. Ich kann aber nicht sagen, ob das flächendeckend so ist. – "Klimawandel verhindern durch Individualkonsum" sicher nicht, aber vielleicht durch auffälligen Antikonsum. Wir bauchen antikonsumierende Influencer, vor allem als Vorbild für China, Indien und Afrika (in dieser Reihenfolge). Oder, mit Dank an Kommentator(in) von 21:17, für den Fortbestand des Wirtschaftssystems keine antikonsumierenden Influencer, sondern Influencer, die das Handy und die Schuhe nicht zweimal im Jahr, sondern nur alle zehn Jahre wechseln, zum 20-fachem Preis, weil die individuell handgemacht sind. J.L.

Kommentar vom 2019-12-05, 00:20

Hier 21.17 beep:-) als geizig würde ich Sie im Traum nicht denken/einschätzen, dafür spendieren Sieviel zu viel Zeit an ratsuchende Menschen. :-) Eher als sparsam und genügsam. (um so wohltuender zu lesen, dass der Einkaufwagen auch mal gefüllt wird) Irgendwie sind Sie in Ihrer System kritik viel autentischer, als linksintellektuelle Akademiker, die ich kenne. Sehr angenehm. :-) Die in der Ersten Klasse nehmen denen in der zweiten immer etwas weg: den Mehrwert um ganz substanziell zu sprechen ;-) Oder eben auch die Allmende, öffentliche Güter etc. Aber das war ja schon x mal das Thema ..Wir sind im Kapitalismus die 225 / Klappe. Film ab...:-) Einem auf Wachstum basierenden System. :-) Da helfen keine Influencer - es wird eben wieder was anderes vermarktet, vielleicht ein wenig ressourcenschonender ...

Kommentar vom 2019-12-05, 00:20

Das Land, nun gut Rhein Main, scheint voller marxistisch angehauchter, die Zukunft von Waggonzuordnungen kalkulierender Regional-Bahnreisender zu sein.Die erste Klasse von S und Regionalbahn erlebe ich immer als gähnend leer...fast schon peinlich wie wenig anarchisitischer Geist herrscht, sich in überfüllten Zügen diese Abteile anzueignen. Kontrolleure würde es nie schaffen rechtzeitig da zu sein, und wenn schon. ....In Nord und Mitttelitalien bis zur Mezzogiorno Grenze in den Schnellzügen wiederum seh ich immer volle Erste Klasse Abteilungen: Ostentative Dolce Vita..Diviertese tambien!

Kommentar vom 2019-12-05, 10:16

@Kommentator(in) von 00:20: Genau diese Aussage zu meiner aufdringlichen Genügsamkeit wollte ich damit provozieren. ;-) Das Opfern von Zeit für ratsuchende Menschen könnte man auch als Helfersyndrom oder gar (was Mathematik angeht, denn die braucht ja keiner) als Munchhausen by Proxy deuten. Wie der Feuerwehrmann, der Brände legt, um Leute retten zu können. – Zum ökologischen Kapitalismus: Wenn wir auf eine Manufaktur viel teurerer, aber dafür viel länger genutzter Güter umstellen würden, dürfte sich doch finanziell nicht viel ändern, ökologisch aber viel verbessern. J.L.

Kommentar vom 2019-12-05, 12:44

Interessant, auf welche Ideen man vor lauter Ehrgeiz, die Welt zu retten, kommen kann. Die Reisenden in der ersten Klasse nehmen denen in der zweiten keinen Platz weg, weil man bei Bedarf ja einfach noch einen Waggon anhängen könnte. Der wird aber nicht benötigt, weil die potentiellen Mitfahrer alle im Auto sitzen - und nicht etwa, weil die in der ersten Klasse sie aus dem Zug gedrängt haben. Vielmehr sorgen die durch das Zahlen der höheren Preise mit dafür, dass die Plätze in der zweiten Klasse nicht noch teurer sind. Und wenn auf diese Art ein "Mehrwert weggenommen" wird, nehmen dann nicht auch die, die einen teuren Wein kaufen, denen, die einen günstigeren trinken, einen Mehrwert weg? Sollte man nicht per Gesetz beschließen, dass es in Zukunft nur noch eine Sorte Wein gibt? (Oder zumindest eine rote und eine weiße...)

Kommentar vom 2019-12-05, 12:49

@Kommentator(in) von 12:44: Bei Bedarf einen Waggon anhängen? Meines Wissens geht das seit einigen Jahrzehnten nicht mehr. J.L.

Kommentar vom 2019-12-05, 15:45

DIE Kommentator*in, die einen Waggong anzuhängen vorschlug und mit an altbackene Anti DDR oder "DEN NIEDERGANG DER ITALIENISCHEN Weinindustrie" Rhetorik die Gefahren der Vereinheitlichung des Konsums an die Wand malt, möge sich doch über die theoretische Konzeption des " Mehrwerts" doch bei ihrem lokalen Marxistische Theorie Händler informieren!.;-)

Kommentar vom 2019-12-08, 19:03

Interessanterweise trägt ja das populär als solches bezeichnete "Helfersyndrom",
immer eine (unbewusste) aggressive Komponente in sich.
- wie man ja bei ihren Beispiel mit dem Feuerwehrmannn direkt und ein wenig erschreckenderweise lesen muss - das klingt übrigens echt heavy, nach „Löschen“ ;-)

Kommentar vom 2020-11-29, 15:32

Bei Bedarf nen Waggon anhängen ist ja drollig, wenn die DB ja erstens am liebsten alles durch kurzgekuppelte (d. h. nicht spontan verlängerbare) Triebwagen ersetzen mag, zweitens der Vorrat einsatzfähiger Verstärkungswaggons zur Zeit am Ort höchstens begrenzt ist, drittens durch Einsparung bei Bahnhofssanierungen selbige gerne zu Haltepunkten mit kürzeren Bahnsteigen herabgesetzt werden und längere Züge daher gar nicht einsetzbar sind und viertens alleine, dass diese Diskussion geführt wird, es schon beweist, dass divide et impera auch im Nah- und Fernverkehr der DB funktioniert. Die Bundesbahn hatte die 1. Klasse, die Post elfenbeinfarbene Apparate ... wobei die 1. Klasse erhöhten Reisekomfort bietet, während die Farbe des Telefons die Gesprächsqualität nicht beeinflusst. Übrigens schützt Reisen 2. Klasse nicht vor sozialnormativem Konsumzwang, wie die alljährliche Anschaffung neuer Schuhe oder Mobiltelefone ...

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