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Take-Home-Prüfungen als ultimative Kompetenzorientierung

2020-05-26 15:36

Viele Lehrende sind misstrauisch, was die allerorts Corona-bedingt eingeführten Take-Home-Prüfungen angeht (auch unscharf als „Open Book“ bezeichnet, aber Open-Book-Prüfungen gab es schon im Hörsaal). Dieses Misstrauen ist jedoch völlig unberechtigt, denn an Take-Home-Prüfungen beweist sich, ob man Schlüsselkompetenzen nicht nur des 21sten Jahrhunderts für das berufliche Fortkommen erworben hat: das Nutzen von Win-win-Situationen und das Delegieren. Außerdem zeigt sich hier die humanistische Bildung neuer Art: ob man es schafft, seine Persönlichkeit kreativ dem totalen Zugriff realer bzw. konstruierter „Märkte“ zu entziehen.

Das beste Argument gegen die traditionellen Prüfungen dürfte sein, dass deren Inhalt sowieso wenige Wochen nach dem Termin vergessen ist. (Was es, nebenbei bemerkt, sinnlos macht, solche Prüfungsergebnisse auf einer Blockchain festzuschreiben, für alle Ewigkeit – also bis Projektende, wenn die Software nicht mehr gepflegt wird.) Die Modularisierung gemäß Bologna verlangt vielmehr, dauerhafte, fachübergreifende Kompetenzen zu dokumentieren, nicht technisches Detailwissen, denn das kann man billig aus China einkaufen.

Klammer auf. Von der numerischen Lösung von Differentialgleichungen in meinem Udacity-MOOC 2012 beherrsche ich heute nichts mehr, selbst von meiner Herleitung der Schwarzschild-Metrik 2016 nicht. Es scheint mir vermessen, diesbezüglich von den Studierenden mehr zu verlangen. Wiederholung ist die Mutter des Lernens, und so kann ich mich an die niedrigkompetenzstufigen Inhalte meiner oft gegebenen, viel älteren Bremer Computergrafik-Veranstaltungen deutlich besser erinnern als an Udacity und Schwarzschild. Aber Wiederholung verträgt sich nicht mit Modularisierung – zumindest nicht im Verständnis der Bologneser Ausbildungs-Cafeteria. Klammer zu.

Einfach nur zu wissen, was die Fourier-Transformation vom Sägezahn ist oder wie man einen Aufwärtswandler aufbaut, wollen wir doch lieber anderen überlassen (填鸭式教学法). Als Aufgabenstellungen für Take-Home-Prüfungen werden typischerweise Probleme vorgeschlagen, die ganz im Sinne von Bloom Begründungen, Abwägungen, Analysen usw. verlangen. Hier winkt – angesichts der in den ersten Semestern typischerweise äußerst heterogenen Fähigkeiten zum verständlichen Schreiben und oft allein schon zum sinnentnehmenden Lesen – eine Corona-Förderung für Studierende höherer Semester als 90-Minuten-Echtzeit-Nachhilfegebende.

Falls Arbeitgeber tatsächlich noch Wert auf kleinteilige technische Fertigkeiten legen, sollten sie diese punktgenau selbst testen. Diese Aufgabe muss nicht den Hochschulen und damit dem Staat aufgebürdet werden.

Ein weiterer positiver, potenziell systemverändernder Aspekt der Take-Home-Prüfungen darf nicht ungenannt bleiben: Nun können die Hochschulen kaum mehr ein formales Argument gegen die Anrechnung der üblichen in Distanz erworbenen MOOC-Zertifikate vorbringen.

Kommentar vom 2020-05-27, 08:39

Glücklich die Tage, an denen man solche Texte lesen darf. :-) "seine Persönlichkeit dem totalen Zugriff von Märkten zu entziehen" (Zitat leicht gekürzt) Der neoliberale Stalinismus hat vor vielen ehemals "kritischen" Kollegen, die sich trotz jahrelanger Adorno-Exegese mittlerweile auf Ihren Lehrstühlen mit bürgernahen Ringvorlesungen und linksliberalen Tittytainment-Events selbst optimieren, nicht haltgemacht. Auch beim Thema Drittmittel liest man naturgemäß die Namen der Institutionen, gegen die elegant und institutionenmilde bei Symposien desavouriert wird.

Kommentar vom 2020-05-27, 12:13

Klingt nach Adornos "negativer Dialektik" reloaded. Liegt das gerade auf Ihrem Bücherstapeln? :-) "Außerdem zeigt sich hier die humanistische Bildung neuer Art: ob man es schafft, seine Persönlichkeit kreativ dem totalen Zugriff realer bzw. konstruierter „Märkte“ zu entziehen." Wo lernt man als Physiker eigentlich das gesellschaftskritische Denken? Im echten Leben, durch unvermittelbare Widersprüche oder an der Uni? Im Diplom konnte man es sich noch erlauben, Vorlesungen anderer Fachbereiche aufzusuchen. An der Uni Bielefeld war kritische Theorie nicht so en vogue, oder? Aber Bremen ist natürlich ein heißes Pflaster, wenn es um dialektisch vermittelte Analysen geht. Das Leben ist wohl ein Kompromiss, die Übungsblätter/Klausurfragen der Uni-Physik sind voller komplexer Denkaufgaben, da ist nix mit einfach ausrechnen. Aber an einer Uni als Beamter in Zeiten des Post-Bologna zu unterrichten bedeutet eben, voll in das System der unternehmerischen Hochschule reinzugehen.

Kommentar vom 2020-05-28, 16:17

Vergessen bedeutet aber eben, nicht völlig neu starten zu müssen. Ob es empirische Untersuchungen gibt, wie sich das Wiederauffrischen der Schwarzschild Metrik o. ä., vom Arbeitsaufwand im Vergleich zum Neuerlernen bei praktizierenden Mathematikern verhält? Wäre vermutlich motivierend. ;-)

Kommentar vom 2020-05-29, 15:11

@Kommentator(in) von 16:17: Vielleicht nicht völlig neu, aber weit unten. Umso weiter unten, wie mehr Wochen ins Land gehen. Zum Re-Learning gibt es leider vor und nach Ebbinghaus nur sehr wenig Forschung, insbesondere zu akademischen Inhalten. Solche Studien kosten halt viel Zeit – und die hat man beim Publish or Perish nicht. Ein zweiter Faktor ist, dass die absehbaren Ergebnisse (die jeder bei sich oft genug gefühlt hat) höchst unerwünscht sein dürften. Man wäre also doppelt dumm, so etwas zu untersuchen. Die Selbstheilungskräfte der Wissenschaft wirken! J.L.

Kommentar vom 2020-05-29, 19:54

"Ein zweiter Faktor ist, dass die absehbaren Ergebnisse (die jeder bei sich oft genug gefühlt hat) höchst unerwünscht sein dürften. Man wäre also doppelt dumm, so etwas zu untersuchen." – Die Frage wie aber gäbe es konkret langfristig etwas zu gewinnen bei der Mehrarbeit die regelmäßiges Wiederlernen verursacht? Der vorteilhafte (auch ohne direkte Folgen für Drittmittelakquise) stabilere Aufbau neuronaler Netzwerke, den man ggf. feststellen könnte, würde der zu mehr Gesundheit, Lebensfreude, Reduktion neuronaler Erkrankungen im Alter führen oder nur zu mehr "Ausbeutung". An verschieden Fachbereichen sind unterschiedliche Lehrverpflichtungsmodi für Grundlagenveranstaltungen aktiv: Wenn z.B. Philosophie-Profs, statt immer die gleiche Logik, Epistemologie oder Kritische-Theorie-Einführung zu machen, wie in der Physik zwischen fünf Theos zu rotieren würden. --- grins man kann sich hier vor Lachen gerade nicht halten: Philoprofs sind nämlich ziemlich dogmatisch. ;-) Schönen Abend !

Kommentar vom 2020-05-29, 21:03

@Kommentator(in) von 19:54: Wahrscheinlich einfach nur zu mehr Ausbeutung, weil dann man keine plausible deniability hat, um beispielsweise zu sagen: "Ich habe aber noch nie einen Computer bedient." "Veranstaltungen auf Englisch zu halten ist nicht Teil meiner Berufungsvereinbarung." J.L.

Kommentar vom 2020-05-30, 16:37

Sad enough.

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