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Die Blog-Postings sind Kommentare im Sinne von § 6 Abs. 1 MStV. Der Verfasser ist Jörn Loviscach, falls jeweils nicht anders angegeben. Die Blog-Postings könnten Kraftausdrücke, potenziell verstörende Tatsachenbehauptungen und/oder Darstellungen von Stereotypen enthalten. Die Beiträge der vergangenen Wochen werden als Bestandteil der Internet-Geschichte in ihrer ursprünglichen Form gezeigt. Menschliche Autor*innen können unzutreffende Informationen über Personen, Orte oder Fakten liefern.

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Die Geschwindigkeit des Vergessens

2020-08-14 12:13

Dass sich kaum jemand darum schert, wie lang man die – mit mehr oder minder viel Mühe – gelernten "Kompetenzen" auch behält, habe ich schon oft beklagt. Hier endlich mal eine Übersicht: Competence retention in safety-critical professions: A systematic literature review.

Die extreme Streuung der Verfallskurven in Fig. 2 zeigt, dass wir da irgendwas noch nicht systematisch durchdrungen haben. Das Paper bringt dazu einige Ideen. Eine gute Faustregel scheint aber zu sein, dass nach einem halben Jahr die Hälfte weg ist. (Leider lässt das Paper offen, was "50 %" usw. denn überhaupt heißen soll. Wie misst man eine Prozentzahl einer Kompetenz?! Das bringt mich auch immer auf die Palme, wenn ich hören muss, dass wir x % informell lernen würden.)

Es bliebe sowieso zu klären, inwieweit man Wiederbelebungmaßnahmen und Jadgflugmanöver auf wirklich lebensgefährliche Aktionen wie das Lösen quadratischer Gleichungen und das Schreiben von for-Schleifen übertragen kann.

Kommentar vom 2020-08-14, 14:00

Danke, wirklich interessant. Und das Paper hat also auch Ihr J.L.-Gütesiegel für korrekte statistische Berechnungen und Anwendung der statistischen Konzepte erhalten? Die Autoren scheinen per Selbstbeschreibung keine Nawis zu sein, deswegen die Frage.

Kommentar vom 2020-08-14, 14:30

@Kommentator(in) von 14:00: Es kommt praktisch keine Statistik vor. ;-) Die Unklarheit der Prozentzahlen und dass von jeder Studie nur Mittelwerte gezeigt werden, ist allerdings ein dickes Problem – das man aber nicht unbedingt den Autor*innen des Papers anlasten sollte. J.L.

Kommentar vom 2020-08-14, 15:25

Wie schön dass es in Bielefeld Palmen gibt. ;-) Was meint denn dieses "informelle"? J.L.: "dass wir x % informell lernen würden" Etwa die von mir einmal vorgeschlagenen Mathe-Tanzperformances oder Gleichungen im Kanon zu singen? ;-)
Eine Gleichung im Kanon zu singen klingt nach einer Vereinigung von Erkenntnis und Lösungsmethode. :-)

Kommentar vom 2020-08-14, 15:46

@Kommentator(in) von 15:25: https://en.wikipedia.org/wiki/Informal_learning J.L.

Kommentar vom 2020-08-14, 20:30

Ui. Herr Loviscach verweist auf Wikipedia. Ich finde diese Quelle ja eigentlich meist besser als so einige Fachbücher. Bei aller Kritik hab ich im Bereich der E-Technik noch keine falschen Infos erhalten.
Wie sieht das eigentlich aus, wenn jemand bei Ihnen eine Abschlussarbeit schreibt und die Wikipedia zitiert? LG.

Kommentar vom 2020-08-14, 21:24

@Kommentator(in) von 20:30: Ich kann auch auf Journal-Paper hinter einer Paywall verweisen. Besser? – Ich habe in der E-Technik und anderswo auf Wikipedia schon so einiges korrigieren müssen (anonym). – Wenn eine Abschlussarbeit nicht gerade ein Thema wie "Diskussions(un)kultur auf Wikipedia" hat, gehört Wikipedia _nicht_ zitiert, aber ebensowenig der Brockhaus. Man zitiert in wissenschaftlichen Arbeiten bitte nur Primärliteratur (die man zuvor auch noch selbst gelesen hat). J.L.

Kommentar vom 2020-08-14, 21:30

Primärliteratur? Was ist mit Dissertationen und Papern? Ist es überhaupt möglich, nur Primärliteratur zu zitieren?
LG.

Kommentar vom 2020-08-14, 22:58

@Kommentator(in) von 21:30: Huch? Nicht nur möglich, sondern auch Standard. Dissertationen und Paper sind Primärquellen, wenn sie (eigentlich selbstverständlichen) Ansprüchen an eigenständige Arbeiten genügen. Ausnahme typischerweise: deren Teile zum Stand der Forschung und Technik. Aber darin zum Beispiel eine neue Art, das Forschungsfeld zu strukturieren, könnte auch schon wieder zitabel sein. J.L.

Kommentar vom 2020-08-15, 16:04

"Grundlagen des wissenschaftlichen Arbeitens" bei Dr. Loviscach: Reihe, nein, Folge 42. 42. 42. 42 ... :-) Was Sie hier alles auffangen (müssen) an Versäumnissen der Hochschulausbildung! Wird echt Zeit, dass Sie bald ihre eigene Hochschule gründen. Locarno, San Marino, New Jersey, Malta oder Monaco wären geeignete Stützpunkte. No more Bologna. (Was wäre eigentlich das notwendige Startkapital, für sechs Jahre dauernde Diplom- oder rer.-nat.-Studiengänge von 30 Leuten pro Jahrgang?) Dann können Sie nicht nur leidenschaftlich aufmerksamen wissensdurstigen Eleven endlich in Astrophysik und richtiger Hochschul-Mathematik unterrichten, sondern sich Ihre Studierenden, die Interessantesten eben, selbst aussuchen! :-) Skleronome Uni, Neo-Pythagoras oder einfach TH Lovi@scach. :-) shi84y

Kommentar vom 2020-08-15, 16:42

@Kommentator(in) von 16:04: Wenn es da eine Proportionalität gäbe (was ich nicht glaube), könnte man den Jahresbedarf der Jacobs-Uni Bremen (1500 Studierende) von sicher deutlich über 20 Mio € durch 50 teilen. J.L.

Kommentar vom 2020-08-15, 18:03

Noch eine Uni, die zehn!tausend Euro Gebühr pro Semester kostet und öffentliche Gelder / Steuermittel verschlingt. Was für eine Frechheit. ( Pardon für den Facebook-Empör-Modus) Und dann gehen diese Institutionen auch noch mangels Förderer pleite und krakeelen wieder um staatliche Hilfe wie der von Ihnen verlinkte taz-Artikel zeigt. Eine private Wirtschaftsschule, das "hoch" lasse ich bewusst weg, am Rhein kam auch nicht so recht mit den propagierten neoliberalen Positionen, die sie lehrte, zurecht (grins) und schlecht mit den Subventionen klar. Aber Betrug, Hinterziehung, Mauscheleien vom Feinsten in der Uni-Verwaltung: Da lernt man als Studi was fürs Leben.

Kommentar vom 2020-08-15, 21:45

@Kommentator(in) von 18:03: Ein großer Teil des Finanzproblems der JUB stammt wohl daher, dass – anders als zunächst geplant/erträumt/versprochen – nicht viele der dortigen Studierenden diese Höhe der Studiengebühren zahlen. J.L.

Kommentar vom 2020-08-16, 11:46

Interessant wäre es, ob man die mathematischen Inhalte besser memorisieren kann, wenn man sie mit den Skandalgeschichten der erfindenden Mathematiker koppelt. Es gab da einen Typ in der italienischen Renaissance, Cardano, der die Lösungsformel der kubischen Gleichung "erfunden" hatte, ein Würfelspieler, umwittert von düsteren Geschichten, Sex, Drugs und Lautenspiel, also genau das Richtige für normale menschliche Hirne, um die Lösungsmethoden von Gleichungen zu "ankern". :-) - Vielleicht merkt man sich auch nur die Geschichte, aber immerhin wird der Mathe-Unterricht dann peppiger. Überhaupt Mathe als Geheimwissenschaft, in der niemand dem anderen seine Lösungsmethoden kommunizieren wollte. :-D Mathematische Duelle in der Öffentlichkeit statt Prüfungen; der Verlierer mit Hunden aus der Stadt getrieben. :-) Das waren noch Zeiten!

Kommentar vom 2020-08-16, 22:41

@Kommentator(in) von 11:46: Die Geschichtchen wird man in der Tat noch seinen Enkeln erzählen; aber die Mathematik ist wie sonst nach einer Woche vergessen. Außerdem gibt es nicht genug schöne Geschichten für alle Themen. Aber die Geschichten, die es gibt, zu erzählen, würde trotzdem zu viel Zeit fressen. Nein, die Mathematik selbst muss _die_ interessante Geschichte sein. – Eine Sonnenfinsternis falsch vorauszuberechnen, dürfte früher lebensgefährlich gewesen sein. Da hatten wohl auch Mathematiker die/den/das "skin in the game", dessen/deren Mangel in unserer Zeit Nassim Nicholas Taleb so sehr beklagt. Schlampige Arbeit und überzogene Behauptungen rächen sich nicht mehr genug. J.L.

Kommentar vom 2020-08-17, 22:33

Skin in the game: Für eine Elite, die sich die Gesetze so geschaffen hat, dass die Folgen für begangenes Unrecht an ihr abperlen, mag das stimmen. Für das Gros der mittelmäßigen Akademiker und Mittelschichtler, die jahrzehntelang auf die Ideologie des "mind your own business" gesetzt hatte, geht die falsche Berechnung des Menschseins in der Gesellschaft, wie z. B. der US-amerikanischen, auf bittere Art und Weise nicht auf. Armut auch durch Uni-Loans, die man nicht zurückzahlen kann, prekäre Jobs, mobile homes, unzureichende Krankenversicherung sprechen davon, dass gemeinsames Engagement und gesellschaftliche Solidarität ein Fazit logischen Denkens (in einer Gesellschaft von Egoisten besteht auch für Aufsteiger ein wesentlich höheres Vulnerabilitäts-Risiko) hätten sein müssen, die Limitation der dominanten Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie bedeutet auch ein fehlendes geistiges Schwert im Kampf gegen strukturelle Gewalt.

Kommentar vom 2020-08-17, 23:10

Konkret: Skin in the game in USA wäre also, das Lebenkönnen in einer von Empathie, Chancengleichheit, Solidarität gegenüber den Schwächeren geprägten, ökologisch für Proteinwesen lebenswerten Zivilgesellschaft. Dafür hätten Akademiker ihren Geist einsetzen müssen, nicht für Paperlawinen. Gegen die Macht der Apologeten des Egoismus zu wirken, das wäre ein Ziel der aufgeklärten Gesellschaft. Wenn aber die akademische Mittelschicht sich damit abfindet, in gated communities zu leben, & regelmässige Schießereien hinnimmt, eigne Kinder nur noch auf private Schulen schickt, nur im SUV die Schutzzonen verlässt, dann wird die Haut in Streifen abgezogen im skin in the game. Der schwache Widerstand des akademischen Establishment gegen die hegemoniale neoliberale Ideologie hat sich bereits massiv gerächt: Anzahl der Corona-Toten in USA, Abholzungen aller Primarwälder & Meeresspiegelanstieg treffen eben auch den einzelnen laudierten Professor.

Kommentar vom 2020-08-18, 12:38

"Aber die Geschichten, die es gibt, zu erzählen, würde trotzdem zu viel Zeit fressen." Das ist ein Scheinargument, denn wenn die narrative Einbindung hilft, mathematische Inhalte und Verfahren besser zu memorisieren, bzw. mit alltagsweltlichen Bezügen zu füllen und dadurch für den FH-Studi einfach angenehmer zu machen - Menschen lieben im Allgemeinen Geschichten - dann wäre das überhaupt kein Zeitproblem. Sie unterrichten ja nicht die extrem fokussierten Jahrgangsbesten in "reiner" Mathematik. Cardano hat mathematische Verfahren aus der Empirie des Glücksspiels entwickelt. ;-) Das gibt der Algebra doch gleich ein weltlicheres Gesicht. PASSEND DAZU, dass Sie das "Erfinden" von Axiom-atiken durch echte Menschen betonen, und mathematische Formalismen nicht in der Welt der idealen platonischen Gesetze (Gegenposition bei Heisenberg) verorten. :-) Aber vermutlich haben Sie auch das in 20 Jahren Le(e)hre immer wieder versucht. ;-)

Kommentar vom 2020-08-18, 15:07

@Kommentator(in) von 12:38: Nein, das ist ein Irrweg, schon allein, weil die meisten dieser Geschichtchen (wenn man zum jeweiligen Thema überhaupt welche findet!) gerade _nicht_ helfen, sich an die Mathematik zu erinnern, und das noch in der nötigen Tiefe. "Cardano? Oh, das war was mit Glücksspiel. Seine Formel muss was mit Wahrscheinlichkeitsrechnung zu tun haben." Aua. Nein, wie ich schon geschrieben habe: Die Mathematik selbst muss die "Geschichte" sein. Übrigens gibt es einen ganz banalen Killer für die Geschichtchen, nämlich die beliebte Studi-Frage "Und wozu braucht man das??" J.L.

Kommentar vom 2020-08-18, 22:56

Das sehe ich ein. Meine Idee war aber eher die des vertiefenden Erzählens. Aber ich lese gerade den großartigen Ian Mac Stewart 17 Gleichungen und Durham "Story into Genius" (online) [Der Titel sagt mir nix, J.L.] gleichzeitig. Ich werde mal analysieren, ob man da Gefahr läuft, Cardanos Wirken misszuverstehen. :-)

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