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Wie sich der Wissenschaftsrat die Hochschulen erträumt
2022-05-08 11:35
Der Wissenschaftsrat hat sich zur Zukunft von Studium und Lehre geäußert. Einiges davon finde ich, äh, schwierig:
"Qualitätssprung im gesamten Hochschulsystem" (S. 7) Vorsicht, dass das kein 大跃进 wird!
"Hochwertige Angebote für wenige und weniger gute Angebote für viele sind aus gesellschaftlicher wie volkswirtschaftlicher Sicht ebenso zu vermeiden wie der Abbau von Studienplätzen." (S. 7) Das Wort "hochwertige" ist hübsch unklar: Sind das Angebote mit hohem inhaltlichen Niveau oder aber betreuungsintensive Angebote? Es gibt Student*innen, für die erstere sinnvoll sind, und es gibt Student*innen, für die letztere nötig sind.
"[R]egelmäßige Studiengespräche zwischen Lehrenden und Studierenden, die einzeln oder in Kleingruppen stattfinden können" (S. 10) Wenn ich so was vorschlage, reißen mir die Kolleg*innen aus den Studiengängen mit Kohortenstärke 300+ regelmäßig den Kopf ab. Mein Hals ist schon ganz zerfranst. Weiter hinten (S. 34 und 54f) steht, dass das Mentoring auf das Lehrdeputat angerechnet werden soll. Ob man die Auswirkungen davon mal durchkalkuliert hat?
"Bedarf an Teilzeitstudienangeboten mit einem Workload-Korridor von 15 bis 25 Leistungspunkten pro Semester bzw. 20 bis 30 Wochenstunden" (S. 13) Aber zumindest Letzteres ist doch schon lange der Status quo in den meisten Studiengängen?!?
Überall studentische Projekte (etwa S. 31). Aber dort lernt man nur "TEAM = Toll, ein*e andere*r machts" und wählt sich sowieso die Aufgaben, die man bewältigen zu können glaubt (Musik für das Demo-Video raussuchen), statt der Aufgaben, bei denen man etwas lernen könnte.
Überall Wahlfreiheit (etwa S. 32): Das heißt, man weiß als Lehrende*r nie, auf welches Können man aufbauen kann, sondern muss immer wieder von vorne anfangen. Aber ok, das ist ja jetzt schon so (Mathematik 1 ist bei Mathematik 2 weg).
"Aber auch bei kleineren Kohorten konzentrieren sich viele Prüfungsformate auf die Reproduktion von Wissensbeständen." (S. 36) Woher will der Wissenschaftsrat das wissen? Haben die meine Klausuren angesehen? Und die Klausuren der meisten anderen Leute stehen sowieso nicht frei zum Angucken im Netz. (Wobei man Klausuren nie isoliert von der Lehrveranstaltung betrachten darf: Waren die Aufgaben 1:1 im letzten Seminartermin dran?)
"Eine größere Variation von Prüfungsformen und -formaten ist unter Umständen mit einem erhöhten Aufwand für Lehrende und Studierende verbunden. Auch das ist ein Argument dafür, die Anzahl der Prüfungen insgesamt zu reduzieren." (S. 36f) Also wenige dicke Prüfungen statt vieler kleinerer? Wenn man da mal einen schlechten Tag hat …
"In späteren Phasen des Bachelor-Studiums oder im Master können Studierende die Möglichkeit bekommen, über die Einbeziehung von Prüfungen in die Endnote mit zu entscheiden. Das könnte dem häufig beklagten 'Bulimie-Lernen' entgegenwirken und Studierende motivieren, mehr zu lernen, als ihnen in Prüfungen abverlangt wird." (S. 37) Pures Wunschdenken. Was man bräuchte, wäre eine viel höhere Zahl von Prüfungen (siehe auch den vorigen Punkt). Am besten täglich in jeder Veranstaltung. Cold Calling!
"[R]egelmäßig (möglichst einmal im Semester) [sollen] Lehrende und Studierende zusammen mit Expertinnen und Experten aus der Hochschuldidaktik und Hochschulforschung darüber reflektieren" (S. 43) Das wird eine Echokammer, weil nur die eine Sorte von Student*innen was sagt. Und dazu dann auch noch "evidenzbasierte" Statements aus der Hochschuldidaktik.
"Die Arbeitsbedingungen für studentisches Engagement verbessern: z. B.
durch […] den abgesicherten Zugriff auf E-Mail-Verteiler." (S. 52) Wirklich? "E-Mail-Verteiler"?!? Verfügt irgendwer beim Wissenschaftsrat über irgendwelche der so hochgepriesenen Future Skills? Also, zumindest meine Student*innen sind in WhatsApp-Gruppen, wo sie sich sicher wähnen, dass sie dort unter sich sind.
An einigen Stellen bin ich aber auch positiv überrascht:
"Günstig für die Qualitätsentwicklung ist eine Mittelzuweisung, die Anreize setzt, Qualität zu steigern und nicht nur höhere Input- und Output-Kennzahlen zu erreichen." (S. 23)
"Veränderungen von Studien- und Prüfungsordnungen ziehen Umgestaltungen der CMS nach sich; dieser Aufwand wird nicht selten als Begründung angeführt, auf solche Änderungen zu verzichten. Damit gerät ein Hilfsmittel zum Hemmnis." (S. 36)
"Außerdem werden nach Eindruck des Wissenschaftsrats die Begriffe Diversität und Heterogenität widersprüchlich gebraucht: Als Diversität wird häufig eine gewünschte Zielperspektive bezeichnet, die es zu fördern und zu gestalten gelte. Mit dem Begriff der Heterogenität wird hingegen eine teilweise unzureichende Studierfähigkeit umschrieben, mit der die Hochschulen umgehen müssten." (S. 37f)
"Wenn z. B. Online-Self-Assessments (OSA) dazu dienen sollen, die Interessen und Fähigkeiten der Studierenden möglichst gut auf die Lehrangebote und Anforderungen der Hochschulen abzustimmen, dann sollte nicht unter der Hand zugleich das Ziel der Selbstvermarktung (um unterausgelasteten Studiengängen Nachfrage zu verschaffen)
oder der Abschreckung von Bewerbungen (in Studiengängen mit sehr hoher
Nachfrage) verfolgt werden." (S. 38) Genau. Profis wissen natürlich, dass man das nicht mit Self-Assessments macht, sondern durch englischsprachige Pflichtveranstaltungen im ersten Semester und durch ein verpflichtendes Auslandssemester.
Kommentar vom 2022-05-08, 17:43
"wenige dicke Prüfungen": Die Krönung sind dann Staatsexamen. Müsste hier natürlich anders heißen. Industrieexamen?
Tägliche Prüfungen: Die muss aber auch jemand korrigieren.
M.K.
Kommentar vom 2022-05-08, 19:36
@M.K.: Tägliche Prüfungen und Korrektur: einfach mündliche Noten wie in der Schule. (Und, nein, nicht jeden Tag Multiple-Choice am Rechner.) J. L.
Kommentar vom 2022-05-15, 19:08
Man könnte schon digitale Übungsräume aufbauen, wenn man hochschulübergreifend Aufgabenpools generiert und nicht einfach nur bei Single-Choice-Fragentypen stehen bleibt, sondern die Chancen von STACK und Co. nutzt, z. B. auch grafische Dinge abprüft (zeichnen Sie die Arbeitsgerade mit den folgenden zufallsbasierten Eigenschaften ein) und man kann auch automatisiert so Dinge wie Schaltungssimulation (die Netlist ist sicher überprüfbar) überprüfen. Und sicher fällt uns mit der Zeit noch mehr ein. Aber der Aufwand lohnt sich niemals, wenn an jeder Hochschule für jede LMS oder PMS-Version (Prüfungs-Management-System??) jeder Dozent alles nochmal neu reinhacken, debuggen und so weiter muss. Man muss da zusammenarbeiten. Und auch sinnvolle Infrastruktur aufbauen. D. h. LMS-Infrastruktur plus Aufgabenpools (die Mediziner machen's vor!) als Asset sehen.
Kommentar vom 2022-05-15, 23:46
@Kommentator*in von 19:08: Diese Sachen werden aber in der Breite nur dann genutzt (von Studis wie von Profs), wenn man sie verpflichtend macht. Ich hätte als Studi eine solche Gängelei gehasst (so, wie ich die vier Semester Experimentalpraktikum an seit Jahren/Jahrzehnten festen Versuchsaufbauten gehasst habe). – Und in der Medizin ist das Bulimielernen zum "Kreuzen" berüchtigt. J. L.
Kommentar vom 2022-05-16, 08:57
Mich persönlich beschleicht zuweilen der Verdacht, dass vielmehr die jeweiligen Lehrkörper regelmäßiger geprüft werden müssten als die Schüler/Studenten. Diese Position verbeispielt am Zitat eines Lehrkörpers: "Was Sie _meinen_, ist egal." Natürlich kann dieser an logischem Positivismus erkrankte Mensch nicht in den Kopf seines Gegenübers blicken und ist deshalb zur Kommunikation verurteilt. Warum muss diese in diesem Fall aber so schlecht ausfallen? Natürlich haben der Herr Carnap und der frühe Wittgenstein schon irgendwo ihre Berechtigung, was das Ausschalten von Scheinsätzen/Scheinproblemen durch das Bemühen um Präzision und Klarheit angeht. Dass aber, all diese Redlichkeit anerkannt, Sprache dennoch nicht vom Baum der Erkenntnis gepflückt worden ist (soweit ich weiß) und deshalb zunächst einmal der Bedeutungsträger im Subjekt verortet werden muss, um überhaupt auf etwas Bezug nehmen zu können, im Lehrbetrieb entscheidend sein sollte, ist jedenfalls meine Position.
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