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Die Blog-Postings sind Kommentare im Sinne von § 6 Abs. 1 MStV. Der Verfasser ist Jörn Loviscach, falls jeweils nicht anders angegeben. Die Blog-Postings könnten Kraftausdrücke, potenziell verstörende Tatsachenbehauptungen und/oder Darstellungen von Stereotypen enthalten. Die Beiträge der vergangenen Wochen werden als Bestandteil der Internet-Geschichte in ihrer ursprünglichen Form gezeigt. Menschliche Autor*innen können unzutreffende Informationen über Personen, Orte oder Fakten liefern.
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2020-08-15 11:32
Wir Profs wollen nicht die grimmig guckende und den Schlagstock schwingende Miliz spielen, die aufpasst, dass die richtigen Personen hinter Stacheldraht mit den richtigen Hilfsmitteln an den Prüfungen teilnehmen. Wie gut, dass die Technik uns die Schmutzarbeit abnimmt. Hier dazu drei Beiträge von der aktuellen ACM Learning@Scale: 1, 2, 3.
Die Autor*innen eines weiteren Papers dieser Konferenz haben schon vor Corona (Timing ist alles!) untersucht, wie sich Prüfungsergebnisse durch unbeaufsichtigte Prüfungen verbessern: bei jedem Durchgang ein wenig mehr, zum Schluss um sieben Prozentpunkte. Allerdings ging es dabei um Tests, die jeweils nur mit zwei Prozent in die Endnote eingeflossen sind. Sehr informativ ist aber der Abschnitt zu verwandten Arbeiten.
Wir werden einen solchen Anpassungsprozess vielleicht auch in der kommenden Prüfungsphase sehen. In der ersten Corona-Prüfungsphase dürften sich alle Studierenden angesichts der Take-Home-Prüfungen (unscharf auch Open-Book-Prüfungen genannt) noch ungläubig gefragt haben: „Echt jetzt? Wo ist da bloß der Haken?“ Aber jetzt wissen alle, dass es da keinen Haken gibt.
Auch die einschlägigen Anbieter*innen dürften sich nun gewappnet haben, so dass die unsichtbare Hand greifen kann. Gibt es schon spezielle Unterstützung im Web? Oder werden die bekannten Websites für Prof-Bewertungen und Material-„Austausch“ für die, äh, Prüfungsbegleitung zweckentfremdet? Telegram scheint auch sehr dafür geeignet. (Nebenbei: Der aktuelle c’t-Bericht ist leider schwach, weil nicht klar ist, ob man die heiße Ware nicht nur bestellen kann, sondern ob die dann auch geliefert wird. Aber vielleicht kommt das demnächst in der Rubrik „Vorsicht, Kunde!“: „38er Magnum bestellt, Bitcoins bezahlt, aber im Karton liegt nur ein Backstein / an der Packstation wartet die Polizei, musste den Service mit 0 Sternchen bewerten.“)
Wird es Gruppenrabatt geben, wenn sich mehrere Leute mit derselben Prüfung melden? Zum Beispiel zehn Leute zum Preis von zweien, wenn die Aufgaben nicht randomisiert sind, sonst zehn zum Preis von fünf?
Dass als vermeintliche Abhilfe allerorts „kompetenzorientierte“ Aufgaben angesagt sind, was Lehrende gerne als „lese- und schreiblastig“ missverstehen, könnte angesichts des oft beklagenswerten Stands der Lese- und Schreibkompetenzen noch mehr Marktdruck erzeugen – zumal nach den im ersten Corona-Prüfungszeitraum wohl, wie man landauf, landab hört, nicht so tollen Ergebnissen bei solchen Prüfungen.
Eine radikale Maßnahme wäre, an Hochschulen schlichtweg keine Noten mehr zu vergeben. Gabi Reinmann hatte das vor einiger Zeit mal angedacht. Aber ich glaube, die Konsequenzen davon wären hochkomplex. Ohne Noten, ohne Zeugnis fällt ein – wenn nicht sogar: der – Grund weg, eine Hochschule zu besuchen. Ich nehme an, dass einen solchen Einschnitt nur Studiengänge wie Ägyptologie oder Astrophysik unbeschadet überleben, insgesamt wohl gerade solche Studiengänge, die schon seit Jahren mangels Masse geschlossen werden oder werden sollen. Für die anderen Studiengänge könnten kommerzielle Prüfungsdienstleister entstehen – oder die bisherigen weiter aufblühen; die Hochschulen müssten sich überlegen, ob sie, um nicht einzugehen, ihre Curricula auf die externen Zertifikate abstimmen. So gäbe es endlich eine Vereinheitlichung und Austauschbarkeit. Bologna würde Wirklichkeit!
Vielleicht merken aber auch hinreichend viele Verantwortliche, dass Noten angesichts des schnellen Vergessens weniger über das fachliche Können aussagen als über das prüfungskonforme Verhalten. Und vielleicht ist letzteres gerade das, was Arbeitgeber*innen goutieren?
Kommentar vom 2020-08-15, 15:43
Wieder sehr amüsant zu lesen. Vom PPP-Prüfungsregime im Hochschulwesen, über die Aufsichts-Security, die gegen ein Schmiergeld wegschaut, der Hacker, der die versemmelte Prüfung löscht, der Online-Coach während der Take-Home-Prüfung bis hin zum Ghostwriter gibt es viele Optionen, das Hochschulsystem den Bedürfnissen der zahlenden Kundschaft entsprechend zu liberalisieren. Auch gewissenhaft ausgestattete Thugs oder Goons mit Beulen im Jackett an der richtigen Stelle, die den Prüfling zur Mündlichen begleiten, oder ein Therapie-Begleithund könnten Noten verbessern. Ob "kompetenzorientierte" Aufgaben da Abhilfe schaffen und doch wieder Wissen gegen Kohle nivellieren können? Den Punkt finde ich etwas unklar. Bologna, eines der früheren Zentren der italienischen Arbeiterbewegung, ist bereits Wirklichkeit, sogar eine recht bezaubernde Großstadt!
Kommentar vom 2020-08-15, 16:23
@Kommentator(in) von 15:43: Es gibt da ja zwei Seiten der Ungleichheit: erstens das Kapital, um die Grenzen der offiziellen Legalität zu dehnen; aber zweitens das Kapital, um in jungen Jahren Wissen, Selbstbewusstsein und Durchhaltevermögen aufzubauen. – Die "Kompetenzorientierung" halte ich an dieser Stelle (wie auch sonst) für einen red herring. In dem in den verlinkten Posting verlinkten Arbeit hilft die hier nicht spürbar; und ich halte die aus den beschriebenen Gründen sogar für den Anreiz zum Contract Cheating vergrößernd. J.L.
Kommentar vom 2020-08-15, 17:46
Und es gibt das mathematische Kapital! :-)
Kommentar vom 2020-08-16, 11:36
Können Sie! denn überhaupt grimmig gucken? :-D Die Fotos von Ihnen im Netz – da spricht doch die gute Laune selbst ...
Kommentar vom 2020-08-16, 22:25
@Kommentator(in) von 11:36: Wahrscheinlich liegt darin der Kern meiner Unfähigkeit, wirksam zu unterrichten. J.L.
Kommentar vom 2020-08-18, 09:46
"Wahrscheinlich"?! :-) Haben Sie das denn schon durchgerechnet? :-)
Kommentar vom 2020-08-18, 10:03
"Kern meiner Unfähigkeit, wirksam zu unterrichten" :-o Echt jetzt? Sicher basiert diese Aussage auf einer umfassenden quantitativen Erhebung und statistischen Auswertung? ;-) Vergleichen Sie etwa die immer wieder konzeptuell diskutierten "Prüfungsergebnisse" (als für nachhaltiges Lernen dysfunktionales Kriterium) Ihrer Studies mit denen Ergebnisse ähnlicher Hochschulen? Oder wie messen Sie "Wirksamkeit" überhaupt? :-) Studierende werden hier zu sehr als passive Entitäten dargestellt, die man nur richtig füttern, programmieren müsse. :-) Aber wirksames Unterrichten ist eben nur ein Teil des Lern-Prozesses, dass Studies sich selber wirksam für das Lernen ereifern ;-) der andere :-). Vermutlich wäre das Gefühl ;-) eigener Wirkmächtigkeit größer, wenn Sie an einer Uni mit hohen Zugangs-Vorausetzungen/Aufnahmebeschränkungen unterrichten würden.
Kommentar vom 2020-08-18, 14:46
@Kommentator(in) von 10:03: Alles rein anekdotisch. Aber nach allem, was ich erlebt habe und erlebe, würde ich die Hypothese aufstellen, dass man für "nette" Lehrende weniger tut als für "strenge" Lehrende. Beispiel: Als es noch Präsenzlehre gegeben hat (scheint Äonen her zu sein), waren meine Fächer gerne diejenigen, in denen man die Hausaufgaben (Laborvorbereitung, Protokolle usw.) für die gewissen anderen Fächer gemacht hat. – Ja, Leute in Harvard und Stanford könnten verblendeterweise geneigt sein, sich für didaktisch genial zu halten. Allerdings: "Deans have asked me not to schedule a midterm on a big party day, and to make it easy for students to sell their textbooks before the ink is dry on their final exams." (Pinker). J.L.
Kommentar vom 2020-08-18, 18:19
Ein "bisschen" Schwarze Pädagogik muss bei Luschi-Studenten heutzutage wohl schon sein, denn nur, wer die anderen Kommilitonen wirklich leiden sieht, wenn sie beim cold calling rumstammeln, nur wenn mindestens einmal pro Woche einer die Sitzung vorzeitig unter Tränen verlässt, scheinen die Studenten zum Anstrengen bereit zu sein. (Und ganz ehrlich, nichts ist umsonst: Nach ein, zwei Semestern und Studienabbruch kann man die Dienstleisterjobs, bei denen man sich bewirbt, dann auch besser bewältigen.) Wenn die 5 % der Teilnehmer vom Anfang in der zweiten Hälfte der Sitzungen dann unter sich sind, geht das wirkliche Lernen erst los. Besser so, als in allem Institutionen unfähige Ingenieure sitzen zu haben, oder? Vielleicht muss man das Nettsein einfach auf die Freunde, Kollegen und die eigene Familie und die paar wirklich guten Master-Studenten beschränken. (Ich weiß nur nicht, ob ich das ironisch meine.)
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